Universität Bonn sensibilisiert Studierende gegen Missbrauch

Neues Angebot der katholischen Fakultät

Die Uni Bonn schult Theologiestudierende neu im Umgang mit sexuellem Missbrauch. Themen sind etwa der Umgang mit Traumata und problematische Machtstrukturen. Verantwortlich für das Angebot ist der Moraltheologe Jochen Sautermeister.

Autor/in:
Tobias Fricke
Universität Bonn / © Ahmad RS (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Das Zertifikat "Prävention, Intervention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt" richtet sich an Studierende der Katholisch-Theologischen Fakultät, vermittelt Grundwissen über sexualisierte Gewalt und sensibilisiert für alle Erscheinungsformen sexuellen Missbrauchs. Ist das eine Reaktion auf die vielen Missbrauchsfälle in der Kirche? 

Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht (KNA)
Jochen Sautermeister / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Prof. Dr. Jochen Sautermeister (Moraltheologe an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn): Absolut. Das Aufdecken von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche bei uns in Deutschland im Jahr 2010 und die Ergebnisse der sogenannten MHG-Studie zu sexuellem Missbrauch, die von den deutschen Bistümern in Auftrag gegeben worden ist und deren Ergebnisse im Jahr 2018 veröffentlicht wurde, sind zwar schon einige Jahre her. 

Dennoch bestehen die Herausforderungen weiterhin; die Erkenntnisse haben sich vertieft und weiterentwickelt. Wenngleich in der Kirche schon einiges geschehen ist, gibt es noch viel zu tun. Die Theologiestudierenden von heute sollten daher auf jeden Fall Kenntnisse in dem Thema haben.

DOMRADIO.DE: Warum erst jetzt? 

Sautermeister: Ja, die Frage ist durchaus berechtigt. Präventionsschulungen wurden und werden üblicherweise außerhalb der Universität in begleitenden Maßnahmen angeboten. An der Katholisch-Theologischen Fakultät gibt es zwar schon seit ein paar Jahren Lehrveranstaltungen zum Thema sexualisierte Gewalt und sogar ein eigenes Modul "Ohnmacht, Macht, Missbrauch".

Mit dem Zertifikat möchten wir aber das Angebot weiter ausbauen und sichtbar machen. Wir wollen die Studierenden dazu motivieren, sich vertieft mit dem Thema zu befassen. Man kann das Zertifikat etwa bei künftigen Bewerbungen als Qualifikationsnachweis beilegen.

Jochen Sautermeister

"Wir sind die erste Katholisch-Theologische Fakultät mit einem solchen Angebot."

Meines Wissens sind wir die erste Katholisch-Theologische Fakultät in Deutschland mit einem solchen Angebot. Ich bin sehr dankbar, insbesondere Herrn Jakob Schrage am Lehrstuhl für Moraltheologie, dass wir mit dem Zertifikat jetzt starten können. 

DOMRADIO.DE: Dennoch ist das Zertifikat nicht verpflichtend. Warum ist es freiwillig? 

Sautermeister: In den Studiengängen gibt es sogenannte Wahlpflichtbereiche, aus denen Studierende Lehrveranstaltungen oder ganze Module auswählen können, so auch das Modul "Ohnmacht, Macht, Missbrauch". Veranstaltungen aus diesem Modul kann man zum Beispiel für das Zertifikat anrechnen lassen, sodass alle Studierenden die Möglichkeit haben, ohne großen Mehraufwand das Zertifikat zu machen.

Eine Verpflichtung für alle dagegen würde zum einen eine sehr aufwändige Überarbeitung der Studienordnung bedeuten. Und zum anderen ist bei der Behandlung der Thematik im Studium eine besondere Vorsicht geboten. Denn unter Studierenden könnten ja selbst Betroffene sein. Diese zu solchen Kursen zu verpflichten, wäre nicht unproblematisch.

DOMRADIO.DE: Die Lehrveranstaltungen sind viergeteilt, man fängt mit Grundlagen an. Was lernen Studierende über die Gründe für Missbrauchsfälle, speziell im kirchlichen Kontext? 

Sautermeister: In der Grundlagenveranstaltung wird relevantes Basiswissen zu sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen behandelt. Diese Grundlagen sind nicht nur für die Kirche relevant, sondern auch für andere Kontexte wie Familie, Sport, Jugendarbeit oder Kinder- und Jugendhilfe.

In der Veranstaltung geht es vor allem darum, für das Phänomen von sexuellem Missbrauch zu sensibilisieren und zu klären, was man darunter genau versteht. Ebenso werden Dynamiken und Mechanismen behandelt, etwa Täterstrategien, Tätertypen oder die Betroffenenperspektive. Mit Blick auf Institutionen geht es um Risiko- und Schutzfaktoren, um Schutzkonzepte und Hilfsangebote. In der Grundlagenveranstaltung geht es also um Basics, die für ganz unterschiedliche Kontexte relevant sind.

DOMRADIO.DE: Wer unterrichtet diese Kurse?

Sautermeister: Die Veranstaltung wird von einem Theologen angeboten, der auch Psychologie studiert hat und entsprechende praktische Erfahrungen in der Präventionsarbeit besitzt.

DOMRADIO.DE: Es geht dann in einem zweiten Teil darum, sexualisierte Gewalt aus theologischer Perspektive zu betrachten und dabei theologische Kompetenzen anzuwenden. Wie kann man sich das vorstellen? 

Sautermeister: Jedes System, sei es etwa Sport, Kulturbetrieb, oder Kirche, hat ihre Besonderheiten, die Missbrauch begünstigen. In der zweiten Veranstaltung geht es um Aspekte, die für die Kirche spezifisch sind, etwa spezifische Strukturen, besondere Rollenverständnisse oder theologische Deutungen. Das Zertifikat wird ja vor allem für Theologinnen und Theologen angeboten, wobei es bei Interesse auch für Studierende anderer Fächer offen ist.

Jochen Sautermeister

"Die MHG-Studie (...) hat gezeigt, dass es spezifische Risikofaktoren in der Kirche gibt." 

Die Ergebnisse der bereits genannten MHG-Studie haben gezeigt, dass es spezifische Risikofaktoren in der Kirche gibt, die sexuellen Missbrauch begünstigen. 

Diese Faktoren sind etwa struktureller Art, aber auch bestimmte theologische Denkfiguren haben ein sogenanntes vulnerabilisierendes Potenzial. Das heißt, dass man mit solchen Denkfiguren etwa Strukturen, Rollenverständnisse oder Bewertungsmuster legitimieren kann, die missbrauchsbegünstigend gewirkt haben bzw. wirken können.

Zugleich gibt es auch Traditionslinien in der Theologie und in unserem Glauben, die gerade schützend gegenüber sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sind. Ich denke hier etwa an die besondere Wertschätzung, die Jesus für Kinder gezeigt hat (vgl. Mt 18,1-5) Auch solche Traditionen sind in den Blick zu nehmen.

DOMRADIO.DE: Die Studierenden können dann auch individuelle Schwerpunkte festlegen. Haben Sie ein Beispiel? 

Sautermeister: Ein Schwerpunkt kann in diesem Zusammenhang etwa die Frage nach Macht und Machtmissbrauch sein. Oder ein anderer: Sexualisierte Gewalt traumatisiert die Betroffenen und kann unterschiedliche körperliche und psychische Folgen haben, etwa eine posttraumatischen Belastungsstörung oder ein Depression.

Und Missbrauch kann auch die psychische Entwicklung beeinträchtigen. Wie lässt sich das aus medizinischer und psychologischer Sicht verstehen und wie kann man Betroffenen helfen?

Jochen Sautermeister

"Wir wollen gezielt interdisziplinäre Vertiefungsmöglichkeiten eröffnen." 

Beim individuellen Schwerpunkt können Studierende je nach Interesse auch eine Lehrveranstaltung besuchen, die an einer anderen Fakultäten angeboten wird. So könnten sie sich etwa mit sexuellem Missbrauch aus psychologischer, medizinischer oder rechtlicher Perspektive befassen. Wir wollen gezielt auch interdisziplinäre Vertiefungsmöglichkeiten eröffnen, die die Universität Bonn für die Theologiestudierenden bietet.

Das Interview führte Tobias Fricke.

MHG-Studie der Bischofskonferenz und ForuM-Studie der EKD

Die vor fünf Jahren veröffentlichte MHG-Studie der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und die ForuM-Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche lassen sich nur bedingt miteinander vergleichen. Ziel ist es jeweils, Umfang und Strukturen des Missbrauchs in katholischer und evangelischer Kirche zu ermitteln. Die Kirchen sind auch Auftraggeber der Studien.

MHG-Studie / © Harald Oppitz (KNA)
MHG-Studie / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
DR