DOMRADIO.DE: Mittags um zwölf eröffnete der Täter vor fünf Jahren mit Schüssen das Feuer auf die Synagoge, erschoss eine Passantin wahllos, die ihn ansprach. Wie und wann haben Sie davon mitbekommen?
Pfarrer Magnus Koschig (Pfarreigebiet Carl Lampert in Halle): Ich habe an dem Tag am Schreibtisch gesessen und habe Knalle gehört. Dafür muss man wissen, dass der KiezDöner nur etwa 200 Meter entfernt ist von meiner Wohnung hier in Heilig-Kreuz. Die Synagoge ist etwa einen knappen Kilometer Luftlinie, vielleicht nur 500 Meter von Heilig-Kreuz entfernt. Ich habe das nicht weiter ernst genommen und wurde dann aufgeschreckt durch die Sirenen und durch Hubschrauber. Dann kam schon schnell die Durchsage über die Polizei 'Bitte verlassen Sie Ihre Wohnungen nicht, halten Sie Fenster und Türen geschlossen.' Das war eine sehr bedrückende Atmosphäre und die habe ich bis heute so in Erinnerung.
DOMRADIO.DE: Um 12:07 ließ der Täter dann von der Synagoge ab, weil die massive Tür zur Synagoge stand hielt. Sonst wäre alles noch viel schlimmer gekommen.
Koschig: Es wäre eine Katastrophe geworden, weil die jüdische Gemeinde Jom Kippur feierte. Es waren 51 Betende in der Synagoge, und er wollte das Attentat von Christchurch in Neuseeland nachstellen und eigentlich alle 51 umbringen.
DOMRADIO.DE: Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag. Dort in der Synagoge konnte man natürlich nicht zu Ende feiern, auch wenn die Menschen dort unversehrt waren. Aber katholischerseits konnte der Gemeinde dann geholfen werden.
Koschig: Ja, an der Stelle hat sich das katholische Krankenhaus Sankt Elisabeth und Sankt Barbara sehr große Verdienste erworben und wird von der jüdischen Gemeinde bis heute auch sehr geschätzt dafür. Sie haben alle aufgenommen und ihnen erst einmal in der Cafeteria ermöglicht, ihren Gottesdienst zu Ende zu feiern und haben dann auf L’Chaim, also auf das Leben angestoßen und mit ihnen dann das Leben gefeiert. Es gibt einige, die bis heute sagen, dass der Tag für sie zweigeteilt war: das Entsetzen in der Synagoge und die Freude, mit so viel Sensibilität und Achtsamkeit im Krankenhaus einen Raum gefunden zu haben, wo sie sich aufgehoben gefühlt haben.
DOMRADIO.DE: Sie haben eben schon den KiezDöner erwähnt, den Dönerimbiss bei Ihnen in der Nähe. Dort wurde auch ein junger Mann wahllos erschossen. Es gab auch noch Verletzte. Haben Sie in dem Zusammenhang viele seelsorgerliche Gespräche geführt?
Koschig: Es gab aus dem Umfeld des dort ermordeten Hallensers Kevin S. Anfragen von Menschen, die einfach reden wollten. Ansonsten waren es hauptsächlich Gespräche, die wir gleich am Tag danach bei einer Veranstaltung hatten. Die evangelische Gemeinde hatte zu einem Schweigemarsch zur Synagoge und anschließend zum KiezDöner eingeladen und unterwegs gab es viele Gespräche. Es ist ein Entsetzen für das Viertel gewesen, denn in diesem Viertel haben immer selbstverständlich viele Kulturen und Religionen zusammengelebt. Das ist ein intellektuelles Viertel mit sehr viel Kultur und bisher weniger aufgefallen in irgendeiner Weise durch Fremdenfeindlichkeit.
DOMRADIO.DE: Wie sehr sorgt Sie der offenbar zunehmende Antisemitismus und die wachsende Zustimmung für die AfD im Hinblick auf diese Tat vor fünf Jahren?
Koschig: Der extreme Einfluss, den die AfD in der Zwischenzeit hat, macht mich wütend und bereitet mir manchmal auch schlaflose Nächte. Es gibt eine Verharmlosung, die ich für extrem gefährlich halte: 'Das sind doch nette Leute, lass die doch mal machen, das wird sie entzaubern.'
Meine jüngste Schwester hat mich auf ein Zitat von Goebbels hingewiesen, der gesagt hat: 'Uns ist jedes gesetzliches Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren. Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale, wir kommen als Feinde. Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir.' Das ist auch mein Eindruck. Wir können nicht wachsam genug sein, um gegen jede Form von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, anti-islamische Stimmung aufzutreten. Es ist brandgefährlich, was hier gerade läuft und wie leichtfertig Menschen einfach nach rechts abdriften.
Das Interview führte Tobias Fricke.