Zwischenbilanz zur Missbrauchs-Aufarbeitung in Bistümern vorgestellt

"Wir brauchen gleiche und verbindliche Standards"

Vor vier Jahren haben die Bischöfe und die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung ein gemeinsames Vorgehen zur Aufklärung von sexuellem Missbrauch in der Kirche und den einzelnen Bistümern beschlossen. Was ist seitdem passiert?

Autor/in:
Ina Rottscheidt
Kerstin Claus / © Kay Nietfeld (dpa)
Kerstin Claus / © Kay Nietfeld ( dpa )

DOMRADIO.DE: Am 22. Juni 2020 wurde von Ihrem Vorgänger, dem damaligen Unabhängigen Beauftragten Johannes-Wilhelm Rörig und Bischof Dr. Stephan Ackermann, damaliger Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) für Fragen des sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Bereich, die "Gemeinsame Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland" unterzeichnet. In den vergangenen zwei Tagen sind Sie in Frankfurt mit der DBK und Betroffenen zusammengekommen, um zu evaluieren, was bislang passiert ist. Wie sieht Ihre Zwischenbilanz aus?

Bischof Stephan Ackermann und Johannes-Wilhelm Rörig (r.) / © Harald Oppitz (KNA)
Bischof Stephan Ackermann und Johannes-Wilhelm Rörig (r.) / © Harald Oppitz ( KNA )

Kerstin Claus (Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs UBSKM): Meine Zwischenbilanz fällt gemischt aus: Es ist viel erreicht worden, wir haben mittlerweile 23 unabhängige Aufarbeitungskommissionen, die in den Bistümern verantwortlich sind. Überall ist eine Betroffenenbeteiligung installiert worden und diese Strukturen sind eminent wichtig, wenn wir verlässlich unabhängige Aufarbeitung ermöglichen wollen. Das ist die positive Seite. 

Aber wir müssen an den Standards arbeiten: Den Kommissionen sagt niemand, was sie zu tun haben. Sie haben sich in Teilen sehr unterschiedliche Arbeitsaufträge gegeben und für die Betroffenen heißt das, dass mit einer Kommission Dinge möglich sind, wie zum Beispiel die Akteneinsicht, die mit einer anderen Kommission nicht möglich sind. Und das darf nicht sein, denn das Ziel der gemeinsamen Erklärung, die ich übrigens auch von Anfang an mitverhandelt habe, war die Schaffung gleicher und verbindlicher Standards und Strukturen, die Aufarbeitung im Sinne der Betroffenen möglich machen. 

DOMRADIO.DE: Es gibt 23 unabhängige Aufarbeitungskommission, wir haben aber 27 Bistümer. Hat da jemand seine Hausaufgaben nicht gemacht? 

Claus: Es haben sich ein paar Verbünde gebildet, etwa die Metropolie Hamburg und die Ostbistümer. Aber es sind tatsächlich alle 27 Bistümer beteiligt und überall gibt es auch eine Betroffenenbeteiligung, wenngleich auch die sehr unterschiedlich ausgestaltet ist. Und in allen Kommissionen gibt es Betroffenenvertretungen.

Kerstin Claus

"Es sind tatsächlich alle 27 Bistümer beteiligt und überall gibt es auch eine Betroffenenbeteiligung."

Auf dem aktuellen Fachtag in Frankfurt haben wir festgestellt, wie unterschiedlich die Herangehensweisen, wie vielfältig die Aufgaben sind, die sich diese Kommissionen geben, wie sie sich auch für Prävention und Intervention stark machen. Und gleichzeitig war auffällig, dass ein gemeinsamer Kern, eine Aufgabe, die alle haben, egal, wo sie in Deutschland ihrer Aufarbeitungstätigkeit nachgehen, in Teilen fehlt. Deswegen war diese Zwischenevaluation wichtig, um Prozesse jetzt weiterzuentwickeln. 

DOMRADIO.DE: Die "Gemeinsame Erklärung" von 2020 sieht auch Rahmenbedingungen für die Beteiligung von Betroffenen an institutionellen Aufarbeitungsprozessen vor. Vielerorts erleben wir, dass Betroffenenräte – sowohl in der katholischen als auch in der evangelischen Kirche – zerbrechen, aufgelöst werden oder Mitglieder frustriert austreten. Woran liegt das? 

Claus: Das ist eine sehr komplexe Frage. Zum einen haben Betroffene nicht zwingend gleiche Interessen, nur weil sie betroffen sind. Für einen Interessensausgleich braucht es eine strukturierte Begleitung, Moderation oder gegebenenfalls auch Konfliktlösungssysteme oder Räume, in denen dieses Ringen um die Priorisierung von Themen gut stattfinden kann. 

Dann braucht es aber auch klare und verlässliche Regeln, weil nicht jeder Mensch ein guter Mensch ist, nur weil er betroffen ist. Auch Betroffene verletzen Grenzen und das muss auch benannt werden können, aber das ist nach wie vor eine Herausforderung. 

Kerstin Claus

"Aufarbeitung gelingt nur, wenn Menschen dazu befähigt werden."

Bei unserem Treffen in Frankfurt ging es auch um die Frage, wie man mit Konfliktlagen umgeht. Wann brauche ich externe Unterstützung? Wie gelingt eine Ergebnissicherung, die dann auch dazu führt, dass in diesem Sinne weitergearbeitet wird? Das ist Handwerkszeug, wie wir es in anderen Arbeitsprozessen auch haben. Aufarbeitung gelingt nur, wenn Menschen dazu befähigt werden. 

Die Partizipation der Betroffenen wird auch erschwert durch die Frage: Wie rufen wir Betroffene auf, sich zu beteiligen und für was eigentlich? Und trauen wir uns auch, nach einem Kompetenzprofil zu schauen? Wenn ich nur fünf Betroffene habe, die sich bewerben, weil ich die Ausschreibung nicht groß genug gemacht oder nicht klar genug gemacht habe, wer gesucht wird, dann muss ich letztlich diese Personen nehmen, die sich beworben haben. Und auch das ist immer wieder komplex. 

Seit einem Jahr versuchen wir in einem Dialogprozess mit Betroffenen- und Institutionenvertretern auszuhandeln – das ist nicht nur die Kirche, sondern auch Sport, Pfadfinder, Jugendorganisationen und Schulen: Was braucht es, damit Betroffenenbeteiligung gelingt und damit Betroffene in Entscheidungsfindung adäquat einbezogen sind und von Anfang an auf Augenhöhe an Aufarbeitungsprozess beteiligt werden. 

Matthias Katsch, Sprecher der Initiative Eckiger Tisch / © Julia Steinbrecht (KNA)
Matthias Katsch, Sprecher der Initiative Eckiger Tisch / © Julia Steinbrecht ( KNA )

DOMRADIO.DE: Die Betroffenenvertretung "Eckiger Tisch" kritisiert, dass die Tagung nicht öffentlich war, obwohl das in der Erklärung so vorgesehen war und beklagt mangelnde Transparenz. Warum wurde sie nicht eingeladen?

Claus: Eingeladen haben die Vorsitzenden der Kommissionen und die haben Öffentlichkeit so verstanden, dass sie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eingeladen haben, aber bei einer noch größeren Öffnung befürchtet haben, dass dies störend für einen offenen, transparenten Prozess und Kritik sein könnte, also dass sozusagen die Arbeitsatmosphäre nicht so gut gelingen kann. 

Der Eckige Tisch und auch dieses Netzwerk waren vor Ort und auch in dem Vortreffen der Betroffenen dabei und sie haben dort ihre Themen hinterlegt, wie etwa die Einrede der Verjährung und die Anerkennungszahlungen.

Auch die Betroffenen haben entschieden, dass der Schwerpunkt dieser Konferenz die Aufarbeitung und die Frage in den Fokus nimmt, was es für diese Prozesse der Aufarbeitung braucht? Das ist eine sehr wichtige Säule und die hatte Priorität, weil das über diese gemeinsame Erklärung geregelt ist. 

Die Anerkennungszahlungen sind eine weitere, aber eine andere wichtige Säule. Und die Schwierigkeit ist, dass man manchmal Prozesse auch auseinanderhalten und trennen muss, damit man vorankommt. Sonst überlagert eine Sache schnell die andere und man kommt mit keiner der beiden wirklich weit. 

Johannes-Wilhelm Rörig bei einer Pressekonferenz im Januar 2020 / © Gregor Fischer (dpa)
Johannes-Wilhelm Rörig bei einer Pressekonferenz im Januar 2020 / © Gregor Fischer ( dpa )

DOMRADIO.DE: Seit 2010 wissen wir von kirchlichem Missbrauch. Es gibt immer noch Diözesen, die gerade erst Missbrauchsgutachten in Auftrag gegeben haben, zum Beispiel Regensburg und Bamberg. Haben Sie dafür noch Verständnis? 

Claus: Die Frage ist nicht, wer für was Verständnis hat. Die Frage ist, was Betroffene hier und heute brauchen. Und für Betroffene ist Aufarbeitung essenziell, weil sie ihnen ein Stück weit das Recht an der eigenen Biografie zurückgibt. Weil sie wenigstens als Erwachsene dafür sorgen können, dass den Taten gegen sie als Kind Rechnung getragen wird. Das heißt, ich habe kein Verständnis dafür, wenn Aufarbeitung blockiert wird. 

Kerstin Claus

"Die Frage ist nicht, wer für was Verständnis hat. Die Frage ist, was Betroffene hier und heute brauchen."

Gleichzeitig muss ich sagen, dass Studien nicht per se Aufarbeitung bedeuten. Studien legen offen, welche Strukturen und systemische Faktoren zu Missbrauch geführt haben und welche Verantwortungsträger vertuscht haben. Sie geben aber nicht die individuelle Antwort auf Aufarbeitung: Wer hätte damals hinsehen können? Wer trug Verantwortung? Wer hat nicht darauf geachtet? Das sind Fragen, die individuell Betroffene stellen. Und deswegen sind für mich diese Aufarbeitungskommissionen so wichtig. Es braucht die Studien, aber es braucht auch die individuelle Aufarbeitung. 

Das Interview führte Ina Rottscheidt.

Missbrauchsbeauftragte will klare Regeln für Betroffenen-Beteiligung

Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, will Regeln für die Beteiligung von Betroffenen an Aufarbeitungsprozessen erarbeiten. Sie erklärte am 2. November in Berlin, bisher habe es immer wieder Konflikte gegeben, weil die Mitarbeit von Betroffenen nicht klar und verbindlich geregelt sei. Es müsse sichergestellt werden, dass ihre Perspektive "von Anfang an gleichberechtigt" eingebracht werde und Entscheidungen gemeinsam getroffen würden, erklärte die Missbrauchsbeauftragte.

Kerstin Claus / © Bernd von Jutrczenka (dpa)
Kerstin Claus / © Bernd von Jutrczenka ( dpa )
Quelle:
DR