DOMRADIO.DE: Sie berichten seit vielen Jahren über die Migration nach Deutschland. Jetzt haben Sie sehr viele Lebensgeschichten gesammelt. Ist das Buch "Nach Deutschland - Fünf Menschen. Fünf Wege. Ein Ziel." eine Art Quintessenz Ihrer Arbeit der vergangenen Jahre?
Isabel Schayani (Journalistin und Buchautorin): Es gibt viele Geschichten, die man hört und die Menschen einem nicht erzählen, wenn die Kamera läuft. Sie beginnen erst später, wenn man sich wiedersieht oder wieder miteinander telefoniert. Da habe ich mir gedacht, dass ich schon so viel gehört habe, was ich gar nicht im Radio, Fernsehen oder online erzählt habe, dass ich jetzt eigentlich noch die anderen Geschichten erzählen müsste. Die habe ich dann in diesem Buch zusammengetragen.
DOMRADIO.DE: Welche Geschichten waren für Sie besonders wichtig und interessant?
Schayani: Für mich ist es am wichtigsten, dass die Geschichten glaubhaft sind. Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind eine kostbare Währung.
Viele Menschen, die sich aus anderen Ländern auf den Weg nach Deutschland machen, wissen, dass sie dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Geschichte erzählen müssen. Dann gibt es die, die tatsächlich einen großen Fluchtgrund haben und nur drei Sätze sagen können, wenn sie dort sind, und es gibt die, die sich weiß Gott was ausdenken, lange erzählen und die ganze Geschichte aber gar nicht stimmt.
Für mich war bei diesen fünf Geschichten wichtig, die Lebenswege nachzuzeichnen, von denen ich mir sicher bin, dass das, was ich schreibe, auch stimmt.
DOMRADIO.DE: Warum ist es so wichtig, sich in die Situation der einzelnen Flüchtenden hineinzuversetzen und nachzuvollziehen, was all die Hindernisse und Hürden in ihrem Alltag bedeuten?
Schayani: Wir haben eine sehr abstrakte Debatte. Zum Beispiel haben wir jetzt die Innenministerkonferenz, die darüber sprechen wird, ob ein Abschiebestopp nach Syrien aufgehoben werden soll oder nicht. Ich glaube, dass es in dieser polarisierenden Debatte, in der alle Seiten ihre Bedenken äußern müssen, wichtig ist, auch über die Menschen zu sprechen, um die es eigentlich geht.
Wir müssen verstehen, was sie hinter sich lassen, was sie unterwegs erleben und wie grau ihre Wirklichkeit aussieht. Das ist natürlich nie so eindeutig, wie wir uns das wünschen.
DOMRADIO.DE: Wovon handeln Ihre Geschichten?
Schayani: Die erste Geschichte handelt von einem jungen Mann. Erst nach vielen Stunden des Gesprächs habe ich verstanden, warum er eigentlich in Deutschland gelandet ist. Er ist hier gelandet, weil er sich unterwegs verliebt hat. Das Mädchen hat immer gesagt: "Komm doch weiter mit."
Aber so etwas passt nicht in die Vorstellung, warum Menschen hierhin kommen. Das sind Perspektiven, die neben dieser abstrakten Perspektive, über die sehr anonymisiert gesprochen wird, auch gehört werden müssen. Es klingt ja manchmal, als würden wir über Tischbeine oder so etwas reden. Es ist aber wichtig, auch das Menschliche mitzudenken.
DOMRADIO.DE: Sie erzählen von den Außengrenzen der EU, den Graubereichen Europas, wo vieles im Argen liegt und viel Leid geschieht. Was entsetzt Sie?
Schayani: Dass wir uns so daran gewöhnt haben. Es gibt nach wie vor Pushbacks auf dem Mittelmeer. Was verstößt gegen das Menschenrecht? Was verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention? Je länger wir das hören, desto größer ist der Gewöhnungsfaktor. Die Menschen fangen, wie im Krieg, an zu sagen: "So ist es halt, das ist schwierig." Unsere Wahrnehmung ist das, was mich am meisten irritiert.
DOMRADIO.DE: In Ihrer Berichterstattung und in Ihrem Buch geht es um die große Frage, wie man Flucht und Migration menschlicher gestalten kann. Wo sehen Sie ermutigende Ansätze?
Schayani: Es gibt kleine Rädchen, an denen man drehen kann. Es ist nicht so, dass man mit einem politischen Schachzug alle Migration stoppen könnte, wie manche rechten Parteien das einem gerne glauben machen möchten. Migration und Flucht hat es in der Menschheitsgeschichte oft gegeben. Die Bibel ist voll damit, der Koran auch.
Man muss diese kleinen Rädchen im Kopf behalten. In Kanada ist es zum Beispiel so, dass eine Gruppe von Menschen andere aufnimmt. Es ist ein Mentorenmodell. Das gibt es in Deutschland auch. Kirchen sind da auch aktiv drin.
Es gibt ja viele in der Zivilgesellschaft, in den Gemeinden, im Umfeld von Vereinen, die sich engagieren möchten, denen aber viele bürokratische Hürden in den Weg gestellt werden. Dabei gibt es beispielsweise dieses Projekt "Nest - Neustart im Team" vom Bundesinnenministerium. Da sorgt man dann gemeinsam für ein Jahr für Unterkunft und Miete und kümmert sich darum, dass die Menschen hier einen guten Einstieg haben.
DOMRADIO.DE: Sie stellen Ihr Buch heute Abend auf Einladung der "Aktion Neue Nachbarn", der Flüchtlingshilfe im Erzbistum Köln, vor. Wie beurteilen Sie die Rolle der Kirchen im Umgang mit Flucht und Migration?
Schayani: Ich glaube, dass die Kirche eine richtig große Rolle hat. Sie ist ein Teil der deutschen Zivilgesellschaft, in dem sich ganz viele Ehrenamtler ihren Werten verpflichtet fühlen. Die sind nicht so sehr dem zeitlichen Wandel unterlegen und nicht so anfällig für Populismus.
Ich glaube aber auch, dass die Kirche da noch viel mehr machen könnte. Auch wenn es in den Kirchen unheimlich viele Menschen gibt, die zu wenig Applaus bekommen, für das, was sie für diese Gesellschaft tun.
Am Ende steht und fällt die Geschichte von den Menschen, die schutzsuchend zu uns kommen und vielleicht nicht so stabil sind, mit den Menschen, die sie aufnehmen. Und in den Kirchen gibt es unheimlich viel wertvolle Hilfe. Das kann ich überhaupt nicht anders sagen.
Das Interview führte Dagmar Peters.