DOMRADIO.DE: Was ist ein Patriarch im biblischen Kontext?
Prof. Dr. Stefan Heid (Direktor des Römischen Instituts der Görres-Gesellschaft und Universitätsrektor des Pontificio Istituto di Archeologia Cristiana): Patriarchen sind von der griechischen Wortbedeutung her zunächst einmal die Urväter, die die israelitischen Familien bzw. die zwölf Stämme Israels begründet haben. Das Wort gibt es in der klassischen Antike nicht, ist also wirklich etwas spezifisch Jüdisches.
Im engeren Sinn sind die drei Stammesväter Abraham, Isaak und Jakob die Patriarchen. Ihre Gräber wurden schon zur Zeit Jesu in einem großen Heiligtum in Hebron verehrt, das besonders den Pharisäern wichtig war. Man lese nur nach, wie Jesus ihnen gegenüber seine Überzeugung von der Auferstehung der Toten begründet: "Habt ihr jenes Wort, das Gott zu euch sagt, nie gelesen: 'Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs'? Gott ist doch nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden!" (Mt 22,31-32).
Insofern standen die Patriarchengräber von Hebron in einer gewissen Opposition zum Jerusalemer Tempel, deren Priester (die Sadduzäer) die Auferstehung abstritten. Die Patriarchen als Anwälte der Auferstehung – man denke auch an Lazarus im Schoße Abrahams (Lk 16,19-31) – gewannen auch in der christlichen Verkündigung eine besondere Bedeutung.
DOMRADIO.DE: Wie sind in der frühen Kirche Patriarchate entstanden und was waren die Aufgaben der Patriarchen?
Heid: Die christlichen Patriarchate haben mit den Gestalten des Alten Testaments nichts zu tun. Sie hängen mit der organisatorischen Ausdifferenzierung der globalen Kirche zusammen. Zwar ist die Kirche Jesu Christi eine einzige, aber konkret besaß sie nie ein die gesamte Christenheit umfassendes Jurisdiktionsoberhaupt. Auch der Papst ist nicht hierarchisches Oberhaupt der Gesamtkirche, sondern sein Amt ordnet sich asymmetrisch in das auszutarierende Gefüge der fünf Patriarchate ein.
DOMRADIO.DE: In welchem Verhältnis standen die altkirchlichen Patriarchen zueinander?
Heid: Die eine Christenheit besteht grundlegend aus Bistümern, diese gruppieren sich überregional unter Erzbistümern. Die am weitesten ausgespannte Organisation der Gesamtkirche sind die Patriarchate, die sich in einem längeren Prozess vom 4. bis zum 6. Jahrhundert ausbilden.
Zunächst sind es Antiochia, Alexandria und Rom (bestätigt durch das Konzil von Nizäa im Jahr 325, aber noch ohne den Titel "Patriarchat"), die als petrinische Bischofssitze gelten, weil hier jeweils Petrus missioniert hat (in Alexandria durch seinen Schüler Markus). Dann kommt noch im vierten Jahrhundert Konstantinopel, dann im fünften Jahrhundert Jerusalem hinzu.
Seither besteht die sogenannte Pentarchie: fünf Patriarchate, die bis heute innerhalb der Weltkirchlichkeit ein besonders hohes Prestige genießen und die untereinander eine hervorgehobene Verbindung pflegen.
DOMRADIO.DE: Wie ist es dazu gekommen, dass der Patriarch der Westkirche als Bischof von Rom eine Vorrangstellung beansprucht hat?
Heid: Die Spitzenposition Roms – vor Konstantinopel, Jerusalem, Alexandria und Antiochia – ist auch im Osten nie in Frage gestellt worden, und zwar einfach deshalb, weil Rom zwei authentische Apostelgräber – jene des Petrus und Paulus – hat und somit eine Doppelapostolizität beansprucht. Seit Irenäus von Lyon (2. Jahrhundert) gilt Rom als das Ur-Maß der Orthodoxie, das heißt der Rechtgläubigkeit.
Man kann das vergleichen mit dem Ur-Meter, der in Sèvres bei Paris aufbewahrt wird. Jedes Lineal gibt den Meter an, aber alle diese Lineale nehmen letztlich ihr Maß am Ur-Meter. So ist auch die Apostolizität in Alexandria und Antiochia dieselbe wie in Rom, aber das Maß ihrer Apostolizität können sie an Rom verifizieren.
Das Dekret "Cunctos Populos" von 380 verweist daher auf Rom als den Pol der Apostolizität, aber genauso auf Alexandria. Apostolischer Ursprung ist das grundlegende Motiv patriarchaler Würde, das nun aber gerade nicht für Konstantinopel gilt. Daher ist Konstantinopel immer umstritten gewesen und musste sich sozusagen seine Apostolizität "nachbesorgen" durch den Import von Apostelreliquien. Die Gründung der Christengemeinde in Byzanz durch den Petrusbruder Andreas ist jedenfalls legendär.
DOMRADIO.DE: Heute gibt es viel mehr Patriarchate als in der frühen Kirche. Wie ist es dazu gekommen?
Heid: Die Vervielfältigung der Patriarchate setzt schon im fünften Jahrhundert ein, als sich in Syrien und Ägypten die nestorianischen und monophysitischen Kirchentümer abspalten, wobei ich hier nur der Einfachheit halber die traditionelle, sachlich so nicht richtige Ausdrucksweise verwende.
Im Kern geht es um die traurige Erfahrung der Kirchengeschichte, dass ökumenische Konzilien zu Spaltungen führen können und daher brandgefährlich sind. So haben die Konzilien von Ephesus (431) und von Chalkedon (451) im Osten zu tiefgreifenden, irreversiblen Kirchenspaltungen geführt, und zwar in Antiochia und in Alexandria.
Dadurch gibt es dort nun jeweils zwei Patriarchen und Patriarchate. Es sind "Konfessionen", die ursprünglich auf bestimmte Territorien beschränkt waren. Das Patriarchat Rom hat sich hingegen nie in zwei oder drei parallele Patriarchate aufgespalten.
Im Laufe der Jahrhunderte haben sich sowohl die fünf ursprünglichen als auch die konfessionellen Patriarchate durch Migration in die gesamte Welt ausgedehnt. So ist es zu einer unüberschaubaren Überlagerung der Jurisdiktionsgebiete gekommen ist. Zudem wurden von Byzanz aus zahlreiche neue Patriarchate – autokephale Kirchenverbände – gegründet: Russland (1589), Georgien (1917), Serbien (1920), Rumänien (1925), Bulgarien (1953).
DOMRADIO.DE: Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Lateinische Patriarchat von Jerusalem wiedererrichtet, hat eine eigene Jurisdiktion und der gegenwärtige Patriarch ist sogar Kardinal. Was bedeutet dies für Jerusalem und für die Gemeinschaft mit den anderen Patriarchen?
Heid: Die Situation der östlichen Patriarchate ist insgesamt äußerst verwirrend. So residieren allein in Kairo, Damaskus und Jerusalem je drei Patriarchen, man möchte sagen: mindestens, denn auch auf diesem Gebiet gibt es eine gewisse Fluktuation.
Das Lateinische Patriarchat von Jerusalem wurde zwar erst 1847 von Papst Pius IX. gegründet, ist aber geschichtlich belastet. Denn es gab das Lateinische Patriarchat seit den Kreuzzügen, nachdem Jerusalem erobert worden war. Es war politisch eingebunden in das lateinische Königreich Jerusalem und überlebte dieses nicht.
Seither gab es nur ein Titelpatriarchat Jerusalem, bis – wie erwähnt – unter Pius IX. dieses wieder zu einem echten lateinischen Patriarchat erhoben wurde, dessen Zuständigkeit sich heute weit über Israel und die palästinensischen Gebiete hinaus erstreckt. Die Einrichtung des Patriarchats war seelsorglich begründet und hatte mit der damals noch starken Präsenz katholischer Christen im Vorderen Orient zu tun.
DOMRADIO.DE: Vor knapp 1000 Jahren gab es durch Adalbert von Bremen Bestrebungen zur Errichtung eines Nordischen Patriarchats im Erzbistum Hamburg-Bremen. Wäre heute die Gründung von neuen Patriarchaten auf anderen Kontinenten auch eine Möglichkeit, die Weltkirche besser darzustellen und zu dezentralisieren?
Heid: In der lateinischen Kirche gibt es neben dem echten Patriarchat Jerusalem noch weitere Patriarchate, die aber reine Ehrentitel sind. So nennen sich die Bischöfe von Venedig und Lissabon Patriarchen. In jüngster Zeit wurden zwei Patriarchen von Venedig Päpste: Johannes XXIII. und Johannes Paul I.
Ob die Schaffung neuer Patriarchate in der Westkirche mit echter Jurisdiktion eine gute Idee wäre, wage ich zu bezweifeln. Schon die Erzbischöfe tun sich ja schwer, mit ihren Suffraganbistümern eine nennenswerte Relevanz zu entwickeln. "Patriarchate" würden am Ende doch nur "patriarchale" Strukturen der Kirche profilieren und niemandem nützen.
Die Fragen stellte Jan Hendrik Stens.