DOMRADIO.DE: Herr Quast, der Heiligabend im Gubbio, wenn Weihbischof Ansgar Puff traditionell mit den Obdach- und Wohnungslosen einen Weihnachtsgottesdienst feiert, ist seit Jahren in Ihrem Terminkalender fest eingeplant. Auch sonst begleiten Sie einmal im Monat als Trio – zusammen mit Andrea Hommelsheim und Michael Lätsch – die dort gefeierte Liturgie. Was ist in der Heiligen Nacht noch einmal anders als sonst – außer vielleicht den Liedern?
Thomas Quast (Mitglied der Band Ruhama): Gerade in der Heiligen Nacht ist die Sehnsucht der Obdach- und Wohnungslosen nach Heil-Sein, nach Gesund-Sein, nach Wärme und nach Licht noch stärker zu spüren als an anderen Tagen. Das merke ich bereits am Nachmittag, wenn wir die Instrumente aufbauen. Da gibt es eine erwartungsvolle Spannung, wie wir sie auch von unseren eigenen Familien kennen: Alles ist aufregend, es gibt ein leichtes Kribbeln, es herrscht eine fast heilige Stimmung.
Zu den Liedern, die wir das ganze Jahr über singen, kommen natürlich an diesem Abend außerdem noch die klassischen Weihnachtslieder wie "Stille Nacht" oder "Oh, du fröhliche" dazu. Aber wir singen auch neue Lieder, etwa "Gottes Reich liegt noch im Argen", weil eben Gottes Reich noch im Argen liegt. Denn "Stille Nacht, heilige Nacht" zu singen und damit alles zuzudecken, ändert an sich ja erstmal noch nichts; es liegt an uns, an jedem einzelnen, etwas zu ändern. Und das bringen wir gerade am Heiligen Abend im Gubbio ins Wort – und ins Lied.
DOMRADIO.DE: Können Sie die Atmosphäre im Gubbio in der Weihnachtsnacht beschreiben? Wie erleben Sie die Gäste, die an einem solchen besonderen Abend die Einladung der Obdachlosen- und Wohnungslosenseelsorge annehmen, oft – wie die heilige Familie auch – kein Dach über dem Kopf haben und in ihrem Alltag unwirtlichen Situationen ausgesetzt sind?
Quast: Auf die meisten Besucher des Gubbio trifft die Bezeichnung obdach- bzw. wohnungslos zu. Aber es gibt auch andere, die ein Dach über dem Kopf haben mögen, aber gerade am Heiligabend ins Gubbio kommen, weil wir eine besondere Gemeinde sind. Denn hier zählt nicht, welchen Mantel man anhat oder ob man vor Weihnachten noch beim Friseur war, sondern so, wie er ist, kann jeder kommen und gehört dazu.
Ich erlebe das Heiligabend in besonderer Weise. Dass dieses bedingungslos Zugehörig-Sein-Können und dafür äußerlich nichts auflegen zu müssen an diesem Abend nochmals eine besondere Wertigkeit hat, weil es genau darum geht: Egal, wo Du geboren bist, egal, was Du mitbringst, Du bist willkommen und angenommen. Von daher finden das Leuchten des Sterns von Bethlehem und der Anbeginn der neuen Welt genau dort – in dieser Kirche an der Ulrichgasse – statt.
In der Regel kommen sehr unterschiedliche Menschen. Da gibt es den Obdachlosen, den ich schon seit Jahren kenne und der mit seinem Rollstuhl während der Messe zehnmal hin- und herfährt, vielleicht sogar hinfällt und aufgehoben werden muss, aber von Anfang bis Ende dabei bleibt. Dann gibt es die Wohnungslose, die den ganzen Gottesdienst still in der Ecke sitzt und nach der Messe zu uns kommt und sagt: "Das war heute wieder so schön! Danke!" Und es gibt die, die laut mitsingen, oder andere, die vielleicht vorsichtig und mit einem zaghaften Abstand näher und näher an die aufgebaute Krippe heranrücken, weil sie etwas von dem Licht und der Intimität dieser Situation erhaschen wollen.
DOMRADIO.DE: Welche Bedeutung schreiben Sie der Musik zu Weihnachten zu?
Quast: Für mich hat Musik ohnehin stets eine besondere Bedeutung. Sie bringt nun mal unseren Verstand, unsere Gedanken und unser Wissen mit unseren Emotionen, unserem Berührt-Sein in Verbindung und verknüpft beides zu einer Stimmigkeit. Weihnachten ist ja ein Fest voller Gefühle, aber auch größter Widersprüche: nämlich zwischen dem, was wir eigentlich feiern – das heißt am Rand der Gesellschaft im Notquartier kommt das Heil in einem kleinen Kind zur Welt – und der Sehnsucht, dass wir, obwohl wir uns in unserer vermeintlich heilen Welt eingerichtet haben, doch wissen, dass genau diese Welt so heil gar nicht ist.
Ich habe den Eindruck, dass die Lieder zu Weihnachten einen Beitrag dazu leisten, dass uns dieser Widerspruch nicht auseinander reißt, sondern wir ihn mit unserer Sehnsucht und unserem Vertrauen in Gottes Botschaft auflösen können. Ich erlebe es so, dass die alten Weihnachtslieder, die unsere Gäste im Gubbio von Kindesbeinen an kennen, eine besondere Verbindung zu dem, was früher einmal gut und heil in ihrem Leben war, herstellen und das von einer großen Intensität – Tränen, aber genauso auch Freude und Dankbarkeit – begleitet wird.
DOMRADIO.DE: Auch im Advent hatten Sie an jedem Wochenende mit Ihrer Band Auftritte, um die Menschen auf das nahende Fest einzustimmen. Wird es nicht von Jahr zu Jahr schwieriger, in diesen hektischen Vorweihnachtswochen für Innehalten und Besinnung zu sorgen und den Blick auf das Wesentliche zu lenken?
Quast: Ich erlebe eher eine ausgeprägte Bereitschaft, hinzuhören und sich in den unterschiedlichen Formen von Gebet, Meditation, Messe oder Konzert auf die eigene Sehnsucht einzulassen. Ich weiß aber auch, dass das nur ein Ausschnitt ist und es gesamtgesellschaftlich vielleicht anders aussieht. Für mich und für uns drei kann ich nur von vielen sehr berührenden Momenten berichten, als wir mit unserer Musik gerade in den letzten Wochen dieser Adventszeit unterwegs waren.
Wie zum Beispiel am 3. Advent, am Gaudete-Sonntag im Bonner Münster, das mit vielen auch jungen Leuten brechend voll war. Eine Schwierigkeit liegt eher darin, dass die Liturgie-Verantwortlichen Formen finden, die für einen Großteil der Gottesdienstbesucher noch attraktiv sind, so dass sich diese davon angesprochen fühlen und im besten Fall im nächsten Jahr wiederkommen.
DOMRADIO.DE: Seit über 40 Jahren machen Sie geistliche Popmusik und sind auf Kirchen- und Katholikentagen gar nicht mehr wegzudenken. Um welche Botschaft geht es Ihnen?
Quast: Mir und "Ruhama" geht es um die Frohe Botschaft; darum, Lieder der Barmherzigkeit zu singen, dass Gottes Liebe und Zusage größer sind als alles Leid und alle Not und dass diese Liebe Gottes mir konkret jeden Tag den Weg weist, anderen zu helfen.
DOMRADIO.DE: Wenn Sie nicht gerade Musik machen, arbeiten Sie als Vorsitzender Richter am Landgericht. Wie geht das zusammen? Gibt es Berührungspunkte zwischen Ihrer Arbeit als Jurist und Ihrem Engagement in der Obdach- und Wohnungslosen-Seelsorge?
Quast: Die Hälfte meines Berufslebens – knapp 30 Jahre – bin ich als Strafrichter tätig. Derzeit bin ich Vorsitzender einer kleinen Strafkammer am Landgericht und der Strafvollstreckungskammern, die darüber entscheiden, ob Freiheitsstrafen vorzeitig zur Bewährung ausgesetzt werden. Viele der Angeklagten bzw. Verurteilten haben eine Geschichte mit Obdach- oder wenigstens doch Wohnungslosigkeit. Manche haben Jahre auf der Straße verbracht, gegebenenfalls auch im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen oder Suchtkrankheiten.
Das bedeutet, dass mir Umstände von Obdach- und Wohnungslosigkeit aus meiner Berufstätigkeit sehr vertraut sind. Und so habe ich gerade in der kalten Jahreszeit schon manches Mal vor der Frage gestanden, ob ich jemandem, den ich eigentlich aus dem Gefängnis entlassen möchte, der aber wochenlang in der Kälte auf der Straße sich selbst überlassen wäre, nicht doch noch – natürlich in Absprache mit ihm – in der Haftanstalt belasse.
Es ist im wahrsten Sinne des Wortes zum Heulen, dass diese Gesellschaft bei allen Sorgen, die wir haben mögen, es nicht schafft, dass jeder ein würdiges Obdach hat, wenigstens zehn, 15 Quadratmeter mit eigener Toilette und Dusche – unabhängig davon, was er oder sie leistet und welchen Weg er im Leben eingeschlagen hat. Das gilt explizit auch für Menschen, die Straftaten begangen haben. Ich bin davon überzeugt, dass viele Straftaten nicht begangen würden, wenn die sozialen Umstände anders wären. Der Zusammenhang von strafbarem Handeln und sozialer Not – und dazu gehört auch Wohnungsnot bis hin zur Obdachlosigkeit – ist für mich völlig unbestreitbar.
Dass das so ist, berührt mich sehr. Wenn ich das mit einer Liedzeile ausdrücken würde, lautete sie: Mein Herz schlägt für die Schwachen; für die, die am Boden liegen; für die, die keine eigene Kraft haben – vielleicht nicht mehr haben – um ihr Leben so zu gestalten, wie sie es möchten. Das gilt für Obdach- und Wohnungslose, das gilt für schwer Erkrankte, und das gilt für Gefangene. Meine Arbeit im Gericht und mein Engagement im Gubbio – beides geht für mich zusammen.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.