DOMRADIO.DE: Wie blicken Sie auf das Wahlergebnis?
Paulus Terwitte (Kapuzinermönch, Autor und Journalist): Ich blicke vor allem darauf, wie viele Menschen gewählt haben: So viele wie schon lange nicht mehr und ich freue mich, dass die Menschen politisch interessierter geworden sind. Von daher dürfen wir eine große Hoffnung haben, dass Menschen in unserem Land wirklich Demokraten sein wollen und wissen, dass jeder eine Verantwortung hat, dieses Gemeinschaftswesen mitzutragen. Das ist das beste Wahlergebnis.

DOMRADIO.DE: Die knapp 20 Prozent, die die AfD eingeholt hat, kamen nicht überraschend. Trotzdem müssen wir feststellen, dass jeder fünfte der Wählerinnen und Wähler rechts gewählt hat. Wie blicken Sie denn als Seelsorger auf diese Wählergruppe?
Paulus: Ich glaube, wir müssen zuerst einmal sehen, dass viele Menschen die AfD nicht gewählt haben. Und wenn jetzt BSW und FDP beide nicht die Fünf-Prozent-Hürde übersteigen, dann wird der Bundestag weniger farbig sein und die Diskussion eintöniger. Das muss man also deutlich sehen.
Aber man muss auch sehen, dass viele Wahlstimmen verloren gehen für Parteien, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Und manche Menschen in unserem Land fragen sich, wer ist wirklich oppositionell? Wir hatten zwar in der letzten Legislaturperiode die CDU als Opposition, aber offensichtlich wurde diese Opposition nicht so wahrgenommen, und das ist noch ein Nachhall aus der GroKo-Erfahrung.

Und jetzt steuern wir wieder auf eine GroKo zu. Es wird eine große Herausforderung sein, dass beide Parteien ihre eigenen Ziele nicht aus dem Auge verlieren und immer wieder deutlich machen, wie sie trotz ihrer eigenen Ziele zu einem Kompromiss bereit sind. Ein guter Streit, der eine Konkurrenz ist, wie wir noch besser die Werte unserer demokratischen Grundordnung verwirklichen können. Und das ist eine große Herausforderung.
DOMRADIO.DE: Es war ein hitziger Wahlkampf, wie wir ihn bislang auch noch nicht kannten. Am Samstag noch wetterte Union-Kanzlerkandidat Merz gegen "grüne und linke Spinner", die SPD warf ihm Spaltung vor, und nannte ihn einen "Mini-Trump". Kann man das noch unter Wahlkampfgetöse verbuchen oder ist da auch in Sachen Respekt einiges verloren gegangen?
Paulus: Mir macht es Sorge, dass wir so eine "Trumpisierung“ des Wahlkampfes hatten. Der Wahlkampf als Event-Veranstaltung, wo es in diesem medialen Sog nur noch um Köpfe ging, das hat mich schon ziemlich gestört. Alle wollten wissen: "Was sagt Merz?" und "Was sagt Scholz?" Dabei mussten natürlich Konturen gezeigt werden, da habe ich schon so manches Mal gedacht: Diese Art von "Battle“ ist wirklich unterste Schublade und die wirklichen Themen kommen gar nicht zu Tage. Es ging im Wahlkampf fast ausschließlich um das Thema Migration, sehr wenig um Rente, Pflege, um Obdachlose, um die vielen abgehängten Kinder, wie wir sie wieder integrieren können, warum unsere Schulen marode sind. Es gibt schon sehr viele Fragen, die einfach nicht zugelassen wurden.

Und dann kam es zu diesen persönlichen Streitereien und Verletzungen. Da kann ich nur sagen: Bitte Leute, lasst das hinter euch! Es muss immer wieder deutlich werden: Es geht uns um die Grundwerte, wie wir in unserem Gemeinwesen mit der Wirklichkeit umgehen können.
DOMRADIO.DE: Für Christen ist Versöhnung eine wichtige Dimension des Glaubens. Lassen Sie uns über Versöhnung auf politischer Ebene sprechen: Wie können sich denn die Parteien, die sich bis gestern noch erbittert bekämpft und beschimpft haben, ab morgen an einen Tisch setzen und eine gemeinsame Regierung bilden?
Paulus: Ich glaube, dass es Gespräche braucht, in dem das Wort "Entschuldigung“ fällt, in dem man sich sagt: "Ich habe mich gegen dich so aufgelehnt, mich so geäußert, um Schärfe in den Wahlkampf reinzubringen oder unser Wahlprogramm deutlicher zu machen.“ Schuld bekennen, die kann dann auch vergeben werden.
Diese Demut wünsche ich unseren Politikern jetzt, es muss klar sein: Es geht um die Menschen in unserer Gesellschaft, es geht um die Schöpfung, es geht um Europa, es geht auch um die Welt, in der wir leben. Und am Ende geht es auch um die Menschen in unserem Land, die Leistung bringen und die, die abgehängt sind und um die Frage, wie wir sie integrieren und ihnen einen Platz in unserer Gesellschaft ermöglichen.
Wir sind eine soziale Marktwirtschaft, die im Unterholz die katholische Soziallehre trägt. Das ist ein Wertefundament. Persönlichkeit zählt, Solidarität zählt und Unterstützung desjenigen, der Unterstützung braucht. Diese drei Fakten, die drei Grundpfeiler hat die katholische Soziallehre der Bundesrepublik mitgegeben. Also: Ein bisschen ein Exerzitienprogramm würde ich den Politikern raten, ein, zwei Tage, in denen sie sich fragen: Was ist unser Anliegen?
DOMRADIO.DE: Die Union wird den nächsten Kanzler stellen, so viel ist sicher. Die beiden Unions-Parteien mit dem "C“ im Namen waren jahrzehntelang der natürliche Partner der Kirchen gewesen. In den vergangenen Wochen hatte dieses Verhältnis Risse bekommen: Die Kirchen hatten Merz für die gemeinsame Abstimmung mit der AfD kritisiert. Aus Unionskreisen hatte man das empört zurückgewiesen. Sehen Sie in der Union eigentlich die christlichen Werte noch als ein Fundament?
Paulus: Ich kenne viele Sozialdemokraten und FDPler, die gute Christinnen und Christen sind, kirchlich verbunden und die aus Überzeugung heraus sagen: Weil ich katholisch bin und weil ich christlich bin, sehe ich dieses Parteiprogramm als besten Weg, die Werte umzusetzen. Das möchte ich wirklich deutlich sagen.

Dass die CDU das Christliche im Namen trägt, ist schön, aber wer definiert was "christlich“ ist? Werte sind im Herzen eines jeden Menschen eingeschrieben von Gott, wie Paulus es schon im Römerbrief sagt. Das Christentum gibt uns die Motivation, wenn wir Nachteile erleiden müssen. So ist es in der sozialen Marktwirtschaft: Wir zahlen Steuern auf unseren Gewinn, damit den Armen geholfen wird. Das war die Idee und das finde ich schon sehr christlich und gut. Wir haben in Deutschland keine Armenviertel, wir haben eine allgemeine Krankenversicherung, eine Rentenversicherung, die jetzt leider gefährdet ist.
Auch da man wird man sich fragen müssen: Was bedeutet es, Nachteile in Kauf zu nehmen für die Gesamtgesellschaft, damit die Renten sicherer werden? Das wäre christlich. Und ob in einer Gesellschaft, in der die Kirchen nicht mal mehr 50 Prozent ausmachen, angeraten ist, nur in der CDU einen politischen Partner zu sehen, würde ich mal seitens der Kirche für fragwürdig halten. Ich würde mich auch von einer Partei nicht gerne vereinnahmen lassen.
DOMRADIO.DE: Was wünschen Sie sich von der kommenden Regierung?
Paulus: Mein Appell ist, dass die neue Bundesregierung sehr schnell ins Arbeiten kommt und denen, die in unserer Gesellschaft wirklich arbeiten - das sind Pflegende, Ärzte, der Mittelstand, die Arbeiterinnen und Arbeiter – merken: Sie sind wertgeschätzt. Den Dialog mit den Gewerkschaften wünsche ich mir sehr und den Dialog mit den Arbeitgeberverbänden und den Wirtschaftsverbänden, dass es zu Lösungen kommt.
Und das zweite ist: Ich wünsche mir frischen Wind in der Bürokratie unseres Landes. Diese ist jetzt 60 Jahre gewachsen und wir brauchen eine Führungsriege in Deutschland, die den Mut hat, zu sagen: Wo dient die Bürokratie wirklich noch dem Gemeinwesen und wo ist sie ein Hemmschuh im Gemeinwesen?
Und das dritte: Natürlich haben wir Sorgen. In unserem Land lebt jedes vierte Kind unter der Armutsgrenze. Wir wissen nicht, wo es mit der Bildung hingeht: Der Lehrerberuf muss attraktiver gemacht werden, grundsätzlich: Investitionen in die Jugend.
Und als letztes: Die Menschen, die Unterstützung brauchen, sollten von dieser Regierung das Signal bekommen: Ihr bekommt diese Unterstützung und wir laden euch ein, mitzuarbeiten und mitzuwirken. Aber da, wo es nicht geht, wollen wir die Armen im Blick behalten und sie nicht fallen lassen.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.