DOMRADIO.DE: Herr Dr. Kleine, seit ein paar Jahren bieten Sie mystagogische Friedhofsführungen an. Was bedeutet dieser Begriff, und was ist das Besondere daran?
Dr. Werner Kleine (Pastoralreferent und Leiter der katholischen Citykirche Wuppertal): Eigentlich ist die Mystagogie etwas sehr Altes. Der Begriff selbst setzt sich aus den beiden griechischen Worten „mysterion“ und „agein“ zusammen – Geheimnis und führen. Früher hat man zum Beispiel die Bedeutung eines Sakramentes erst aus dem eigentlichen Erleben heraus verstanden. Konkret heißt das, ich gehe bei meinen Führungen in Wuppertal über den katholischen Friedhof Hochstraße und mache an ausgewählten Grabmalen und Kreuzen Station, um hier anhand bestimmter Symbole ein emotionales Erlebnis – nämlich das des Kreuzestodes Jesu und seiner Auferstehung – zu ermöglichen.
Ich denke da an eine bestimmte Jesusgestalt aus dem 19. Jahrhundert, die auf einem Sockel huldvoll und gnädig auf uns herunterschaut. Da steht jemand, der einlädt, sich uns entgegenneigt, nicht straft – und mit dem ich das Erleben christlicher Hoffnung vermitteln kann. Denn der mystagogische Ansatz verfolgt mehr als das bloß intellektuelle Kennenlernen von Fakten; hier geht es vor allem um das Erfahren und Erschließen einzelner Elemente unseres Glaubens – wenn man so will, darum, dem Geheimnis durch Erleben auf die Spur zu kommen. Daher gehört immer auch das Vollziehen besonderer Riten – etwa mit Weihwasser, Weihrauch und Licht – mit zu einer solchen Führung. In der Mystagogie ereignet sich das, worum es geht. Die mystagogische Führung wird auf diese Weise zu einem Gottesdienst eigener Art.
DOMRADIO.DE: Welcher Gedanke steckt dahinter?
Dr. Kleine: Der Tod ist wie die Geburt ein Teil des Lebens. Für Christen kommt das Leben im Tod zu sich selbst. Friedhöfe sind deshalb nicht bloß Ruhestätten oder Orte der Stille. Grab- und Gedenksteine geben Auskunft über das Leben derer, die hier bestattet sind, aber sie zeugen eben häufig auch von deren Glauben bzw. vom Glauben ihrer Angehörigen. Eine mystagogische Führung auf dem Friedhof, wie wir sie in der Citypastoral anbieten, erschließt die Begegnung von Leben und Tod auf eine ganz besondere Weise. Es wird deutlich: Der Tod ist nicht das Ende, sondern Vollendung.
DOMRADIO.DE: Stichwort „Ruhestätte“: Auf viele Menschen üben Friedhöfe vielleicht gerade wegen der Ruhe, die von ihnen ausgeht, eine magische Anziehungskraft aus. Welche Beobachtungen machen Sie?
Dr. Kleine: Meistens sind es ältere Menschen, die sich einer solchen mystagogischen Führung anschließen. Oft haben sie gerade den Ehepartner verloren und nutzen diesen etwa einstündigen Gang für ihre Trauerarbeit und im Anschluss vielleicht sogar für ein Seelsorgegespräch. In der Tat ist es zum einen die Stille, die von Friedhöfen ganz allgemein ausgeht und die in alltäglicher Betriebsamkeit eine wohltuende Oase fernab jeder Hektik anbieten. Andererseits, wenn man an die Ränder dieses Friedhofs gelangt, tobt hier auch der Straßenlärm. Die Friedhofspforte ist daher – im übertragenen Sinne – so etwas wie die Grenze zwischen Leben und Tod.
Am tiefsten Punkt unseres Wuppertaler Friedhofs befindet sich ein Kolumbarium mit engen Gängen. Das hat etwas Bedrückendes; hier lässt sich der Tod auskosten. Und da sind wir wieder bei dem, was die Mystagogie ausmacht: An diesem Punkt wird die Gottverlassenheit geradezu körperlich greifbar. Hierhin führt ein Weg, den niemand alleine gehen will. An dieser Stelle – im Tal der Todeserfahrbarkeit – bekommt jeder Teilnehmer nach jüdischem Brauch einen Stein von mir, wie ihn die Juden auf die Gräber ihrer Toten legen, um damit zu zeigen, dass sie am Lebenshaus ihres Verstorbenen weiterbauen. Denn für Juden sind Grabstätten Ewigkeitsfriedhöfe – nicht wie bei uns, wo ein Grab nach 20, 30 Jahren aufgelöst wird. Diese Symbolik des Weiterbauens an einem Lebenshaus lehnt sich an das Neue Testament an, wo es heißt: Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen… Das, was mit diesem Stein verbunden ist, löst oft bei den Teilnehmern einer solchen Führung etwas Tröstliches aus. Das ist eine ganz wertvolle Erfahrung. Denn sie spüren dadurch, dass es ihrem Verstorbenen gut geht. Gerade auch weil ich dann nach einem Aufstieg zu den höher gelegenen Gräbern eine Osterkerze entzünde und damit Tauferinnerung feiere, indem ich aus dem Römerbrief vorlese „Auf Christi Tod seid ihr getauft…“ und das Lied „Christ ist erstanden“ anstimme.
DOMRADIO.DE: Was möchten Sie den Menschen bei einem solchen Gang vorbei an den Gräbern vermitteln? Worin liegt die christliche Botschaft?
Dr. Kleine: Unser ganzer Glaube beruht auf dem Kreuzestod und der Auferstehung Jesu. Für mich ist das eine Gewissheit, die mich persönlich beseelt. Und davon will ich Zeugnis geben. Ja, der Tod ist eine schmerzliche Realität, aber es gibt auch die christliche Hoffnung, mit dem Tod in ein neues Leben geboren zu werden. So verstanden ist der Tod „nur“ der Durchgang zum neuen Leben. Er ist das Heraustreten aus dem Zeitkontinuum in die Ewigkeit. Und da die Ewigkeit ein pures Jetzt ist, geschieht genau das im Moment des Todes: Wir treten bereits in diesem Augenblick vor Gottes Thron. Von dieser Hoffnung will ich den Menschen etwas mitgeben: als einen Anker für den Alltag, auf dem man weiter aufbauen kann, und als ein Signal des Trostes, dass es dem Verstorbenen, um den getrauert wird, nun gut geht. Das richtet auf, und jeder kann aufgerichteter wieder in die Welt gehen.
DOMRADIO.DE: An diesem Sonntag feiert die Kirche das Hochfest Allerheiligen. Warum besuchen die Menschen an diesem Tag die Gräber ihrer Angehörigen?
Dr. Kleine: Selbst für viele ungläubige – was höchst erstaunlich ist – aber vor allem natürlich für gläubige Menschen ist es wichtig, sich zu Allerheiligen und Allerseelen, dem eigentlichen Gedenktag für unsere Toten, mit ihren Ahnen zu verbinden. Ich erinnere mich noch gut an meine Kindheit, als wir an diesen Tagen über den Friedhof zu den Gräbern meiner Großeltern gingen, und ein Meer von vielen kleinen Lichtern auf den Gräbern brannte. Das ist mir bis heute sehr eindrücklich präsent geblieben, weil diese vielen Grableuchten einfach faszinierend waren. Gleichzeitig ist es ein Bild dafür, dass unsere lieben Verstorbenen, die uns fehlen, nicht einfach weg sind.
Vielleicht wird ja eines Tages auch jemand auf unserem Grab ein solches Licht des Gedenkens anzünden. Und das ist doch ein schönes Gefühl, wenn damit zum Ausdruck gebracht wird, dass niemand vergessen ist. Dass wir das tun – eben auch ungläubige Menschen, denen der christliche Glaube sonst nichts bedeutet – bedeutet doch, dass diese Geste etwas Wirksames haben muss. Ich bin davon überzeugt, im Herzen der Menschen gibt es eine große Sehnsucht nach Verbindung mit denjenigen, die wir nicht mehr um uns haben. Und diese Sehnsucht findet ihren Ausdruck in den vielen Kerzen und Blumen auf den Gräbern unserer Verstorbenen. Am Ende sind es Zeichen einer Liebe, die den Tod überdauert.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet gläubigen Menschen das Totengedenken?
Dr. Kleine: Bei vielen der älteren Generation erlebe ich als Seelsorger, dass sie noch sehr stark in Gebeten für die sogenannten “armen Seelen“ verhaftet sind – und damit in einer Gebetspraxis, wie sie früher sehr verbreitet war. Da war noch stärker die Vorstellung eines Fegefeuers im Bewusstsein verankert, wie es heute kaum noch der Fall ist. Theologisch hat sich da vieles in der Verkündigung weiterentwickelt. Heute verknüpft sich Totengedenken eher mit dem Verständnis, über den Tod hinaus für den Verstorbenen noch etwas tun zu können, damit es ihm gut geht und er dem Vergessen entrissen wird. Totengedenken ist Ausdruck einer Vergegenwärtigungskultur, nämlich dass der Verstorbene nicht weg ist, auch wenn wir ihn nicht sehen können. Totengedenken steht einmal mehr für die Gewissheit, dass unsere Toten bei Gott sind und ihre Seelen gegenwärtig bleiben.
Letztlich sind wir doch bei jeder Eucharistie mit allen Lebenden und Toten verbunden. Denn bei der Präfation heißt es: „Wir stimmen ein in den Hochgesang der himmlischen Heerscharen…“ Das heißt, wir alle stehen an Gottes Thron. In diesem Moment feiern wir, dass alle Seelen auferstehen. So gesehen, feiern wir eigentlich am Fest Allerheiligen – mitten im Herbst – immer auch ein kleines Osterfest.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.