KNA: Herr Siepmann, am Eingang der Zeche Prosper Haniel steht eine Skulptur der heiligen Barbara. Auch auf Sohle 7 findet sich - wie in anderen Gruben - eine Statue der Bergbau-Patronin. Stirbt mit dem Ende der Steinkohleförderung im Ruhrgebiet auch ein Stück religiöse Tradition?
Franziskus Siepmann (Theologe und Kirchenhistoriker): Schwer zu sagen. Natürlich wird der Barbara-Tag am 4. Dezember gefeiert, vermutlich mit einem Bergmannschor, dem Steigerlied und mancher religiösen Prägung. Dann lebt ein Stück Tradition auf. Aber das ist doch mehr Erinnerungskultur der älteren Generation und weniger gelebter Glaube.
KNA: Wie religiös waren die Bergleute?
Siepmann: Klar gibt es diese Barbara-Verehrung, die auch von der Kirche hochgehalten wurde und wird und in der Volksfrömmigkeit eine gewisse Rolle spielte. Aber ich bezweifle, dass institutionalisierte Religion eine große Bedeutung unter den Bergleuten hatte. Das war eher kirchliches Wunschdenken. Die Arbeiter fühlten sich traditionell in ihrer weitaus großen Mehrheit nicht vom Katholizismus vertreten, sondern durch die Sozialdemokratie.
KNA: Wie war denn das Verhältnis zwischen Kirche und Kumpels?
Siepmann: Die Berührung Kirche und Bergbau mache ich an drei Punkten fest: Zum einen ist da der Versuch von katholischen oder christlichen Gewerkschaften, irgendwie in den Dunstkreis der Arbeitswelt im Bergbau hineinzukommen. Das hat aber vor allem im 20. Jahrhundert nicht wirklich funktioniert, weil die Industriegewerkschaft Bergbau und der Deutsche Gewerkschaftsbund viel zu stark waren.
KNA: Punkt zwei?
Siepmann: Das Bistum Essen hat in den 60er bis in die 80er Jahre hinein versucht, das sogenannte Laienapostolat in den Bergwerken und in den Betrieben der Schwerindustrie zu stärken: Katholische Bergleute sollten mit den Kumpels über das Leben und über Religion ins Gespräch kommen. Dazu wurden "Betriebskerngruppen" eingerichtet, die diesen Austausch vorantreiben sollten. Das Ruhrbistum hat diese Arbeit über Jahrzehnte mit einigen Mitarbeiterstellen unterstützt. Das war aber in der öffentlichen Wahrnehmung nie wirklich präsent.
KNA: Welche Wirkung ging von diesen Gruppen aus?
Siepmann: Trotz des innovativen Ansatzes, nämlich der Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Gläubigen, hat das Betriebsapostolat nicht so viel gebracht wie erhofft. Eher präsent war da der Verbandskatholizismus. Die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) etwa war und ist stark vertreten in Industrieregionen. Aber auch die KAB hat in den Betrieben selbst nicht richtig Fuß gefasst. Ihre Arbeit war wesentlich pfarreigebunden. Wirklich relevant für das Verhältnis von Bergbau und Kirche - und hier komme ich zum dritten Punkt - war der Gründerbischof des Bistums Essen.
KNA: Welche Rolle spielte der spätere Kardinal Franz Hengsbach?
Siepmann: Schon als Paderborner Weihbischof interessierte er sich sehr für den Bergbau. Nicht ohne Grund hatte er sich ein Stück Kohle in seinen Bischofsring und die Bergbauinsignien Schlägel und Eisen in sein Bischofswappen einarbeiten lassen. Damit brachte er beste Voraussetzungen für das Bischofsamt in Essen mit. Über drei Jahrzehnte und damit eine ziemlich lange Zeit mischte er in der Welt des Bergbaus mit und übte dort starken Einfluss aus.
KNA: Inwiefern?
Siepmann: Sichtbar wird dies an der Hengsbach-Statue vor dem Essener Münster. Viele finden diese etwas bunte Skulptur nicht schön. Aber sie enthält eine ausdrucksstarke Symbolik. Hengsbach trägt nämlich einen schwarzen Umhang. Der Bischof sieht zwar mit dem wehenden Mantel ein bisschen aus wie Batman, aber der Künstlerin ging es um eine Analogie zur sogenannten Schutzmantelmadonna. Ausgedrückt werden soll damit, dass der Bischof die einfachen Arbeiter des Ruhrgebietes unter seinen Mantel nimmt und sozusagen vor den stürmischen Veränderungen des Strukturwandels schützt. Zudem liegen unter seinen Füßen Lamm und Wolf...
KNA: ... und damit zwei nicht in Harmonie lebende Tier. Was sagt das über den Bischof aus?
Siepmann: Die Tiere stehen für verfeindete Gruppen wie Arbeitnehmer und -geber, die Hengsbach miteinander versöhnt hat. Mit seinem innerkirchlichen Konservatismus stieß er zwar auf viel Ablehnung, aber seine Mittlerrolle zwischen den gesellschaftlichen Schichten und als Versöhner im außerkirchlichen Bereich wird auch von seinen Kritikern anerkannt. Hengsbach hat wesentlich dazu beigetragen, dass es in Deutschland nicht zu solch harten Konfrontationen gekommen ist wie etwa in der englischen Schwerindustrie. Diese lange Subventionierung des Bergbaus - dafür steht auch sein Name. Er sorgte für ein allmähliches und damit sozialverträgliches Förder-Ende. Die Schließung der letzten Zeche erst in diesem Jahr hat deshalb nicht zuletzt mit dem 1991 verstorbenen Essener Kardinal zu tun.
KNA: Wie ist es ihm gelungen, diese besondere Rolle einzunehmen?
Siepmann: Hengsbach hatte sich in die Materie richtig eingearbeitet. So ließ er sich Berechnungen zu Fördermengen geben oder darüber informieren, wann welche Zeche geschlossen wird. Auch hatte er beste Verbindungen zur nordrhein-westfälischen Landesregierung und zur Bundesregierung. Die Korrespondenz mit Konrad Adenauer oder Ludwig Erhard offenbart, wie er für den Kohlepfennig und die Arbeitsplätze kämpfte. Auch die Bergbaukonzerne nahm er in die Pflicht - aber nicht so, dass er nur als Bischof der Arbeiter wahrgenommen wurde. Er war für beide Seiten gleichermaßen Gesprächspartner. In Helmut Schmidts Autobiografie heißt es, dass Hengsbach die wichtigste Person des Ruhrgebiets gewesen sei. Das ist eine spannende Formulierung aus sozialdemokratischer Feder über einen konservativen und CDU-nahen Bischof - zumal das Ruhrgebiet damals zutiefst rot war.
KNA: Haben es die Bergleute dem Bischof gedankt?
Siepmann: Hengsbachs Engagement ist durchaus registriert worden. Ohne dieses wäre wohl der Rückgang des Kirchenbesuchs viel stärker ausgefallen. Man kann der Kirche im Ruhrgebiet nicht vorwerfen, sich zu wenig sozial engagiert zu haben. Hengsbach ging es ja bei Betriebs- und Zechenbesuchen auch um die persönliche Nähe zu den einfachen Leuten. Auch wenn mancher Bergmann ihn als "Schwarzrock" bespöttelte, hielt ihn das nicht davon ab, mehrmals pro Jahr Grubenfahrten zu machen. Der Bischof auf der Schüttelrutsche in 1.000 Metern unter der Erde oder mit kohleverschmiertem Gesicht bei Bier und Schnaps mit den Kumpels - solche Fotos gingen durch die Medien.
KNA: Das Bistum Essen wurde 1958 aus Teilen der Diözesen Köln, Münster und Paderborn gegründet, um besonders auf die Bergleute einzugehen. Verliert es mit dem Bergbau-Ende seine Existenzberechtigung?
Siepmann: Nein. Nicht zuletzt wegen der besonderen Geschichte des Reviers und seines Strukturwandels unterscheiden sich die Herausforderungen hier so substanziell von denen der Mutterdiözesen, dass es der Kirche von Essen gut tut, ein eigenes Bistum zu bleiben.