domradio.de: Es waren schreckliche Bilder, die uns kurz vor Weihnachten aus Aleppo in Syrien erreicht haben: Die Armee rückte näher in die von den Rebellen gehaltenen Gebiete und die Menschen litten, mussten oft vergeblich darauf hoffen, mit Bussen aus dem Kampfgebiet geholt zu werden. Jetzt ist die Stadt in Hand der Regierung, es wurde eine Waffenruhe vereinbart. Wie ist jetzt die Lage in Aleppo?
Ninja Charbonneau (Pressesprecherin UNICEF Deutschland): Vor Ort ist es nach wie vor sehr kritisch, denn die Waffenruhe ist brüchig und der Krieg ist bei Weitem nicht zu Ende. Wir wissen noch nicht, wie es mit der Situation weitergeht. Die Menschen sind nach wie vor sehr verunsichert. Zehntausende sind geflohen, müssen dringend versorgt werden. Viele von ihnen harren in Ruinen aus oder in Notunterkünften, die nur sehr unzureichend im Winter vor der Kälte schützen und wo katastrophale hygienische Bedingungen herrschen.
domradio.de: All das passiert ja "weit weg von uns". Wie darf ich mir den Winter in Syrien vorstellen?
Charbonneau: Der ist ähnlich wie bei uns: Die Temperaturen können durchaus unter null Grad gehen; es hat Ende Dezember auch in Aleppo geschneit. Selbst wenn es nicht schneit, ist es nasskalt, und matschig. Das heißt, es sind wirklich sehr schwierige Bedingungen. Wir versuchen zu helfen, indem wir zum Beispiel warme Decken oder Winterpakete an die Menschen verteilen, mit Kleidung für die Kinder. Viele von ihnen sind sehr geschwächt durch die monatelange Belagerung, sie sind halb ausgezerrt. Das heißt, da ist noch sehr viel zu tun.
domradio.de: UNICEF ist vor allem ein Kinderhilfswerk. Wie geht es den Kindern in Aleppo?
Charbonneau: UNICEF hat 200 Mitarbeiter in Syrien vor Ort, von denen auch 18 in West-Aleppo arbeiten. Die sind die ganze Zeit über dort geblieben. UNICEF war also auch während der heftigsten Kämpfe vor Ort und hat im Rahmen der Möglichkeiten geholfen, hatte aber natürlich nicht immer zu allen Menschen Zugang. Das ist jetzt etwas anders. Die Kollegen berichten von haarsträubenden Szenen: Manche Kinder dort sind alleine, haben in dem Chaos ihre Eltern verloren, sehr viele sind natürlich schwer traumatisiert oder verängstigt, und in einem schlechten gesundheitlichen Zustand, sind erkältet, haben Durchfallerkrankungen, sind schlecht ernährt. Das ist alles besorgniserregend. Wir versuchen, die Kinder wieder mit ihren Eltern oder Familienangehörigen zusammenzubringen. Denn das wichtigste ist erstmal, dass die Kinder einen geschützten Raum haben und zur Ruhe kommen können.
domradio.de: Die Eltern werden aber oft auch gar nicht so leicht zu finden sein, oder?
Charbonneau: Die Frage ist auch, ob die Eltern noch leben. Viele Kinder wissen das gar nicht. Sie haben in den Bomben- oder Fluchtsituationen, die ja sehr chaotisch waren, ihre Eltern aus den Augen verloren und wissen gar nicht, ob sie noch leben. Der erste Schrift ist dann, sie zu registrieren und dafür zu sorgen, dass sich Helfer um sie kümmern und zu versuchen, nahe Verwandte zu finden und sie mit den Kindern zusammenzuführen. Wenn das nicht gelingt, bringen wir die Kinder in Pflegefamilien, Waisenhäusern oder anderen Orten dieser Art unter.
domradio.de: Wir sprechen bei Aleppo von einem Kriegsgebiet: Arbeitet die syrische Regierung mit Ihnen zusammen oder gibt es seitens der Regierung Widerstand?
Charbonneau: UNICEF arbeitet in fast jedem Land der Welt; da sind wir immer überall nur Gast. Das heißt, wir sind auf die Zusammenarbeit mit der Regierung angewiesen, auch wenn uns manchmal eine Regierung nicht gut gefällt. Wir kritisieren Regierungen auch dort wo wir denken, dass sie die Kinderrechte missachten. Genauso kritisieren wir aber auch alle anderen Konfliktparteien, wenn sie die Menschen- und Kinderrechte mit Füßen treten. Das ist in diesem Fall auf allen Seiten des Konfliktes gegeben: Alle Seiten haben Verbrechen gegen Kinder begangen und das prangern wir auch an.
domradio.de: Gerede der Osten Aleppos wurde lang von Rebellen gehalten und viele Menschen sind dort geblieben, weil sie nicht in Gebiete kommen wollten, die unter der Kontrolle der Regierung stehen. Wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?
Charbonneau: Viele Menschen erzählen, dass sie Angst haben, weil es oft so aussieht, dass Menschen, von denen es nur heißt, dass sie mit der Opposition zusammenarbeiten oder für sie Sympathien hegen würden, angegriffen, verschleppt oder spurlos verschwunden sind. Das hat die Zusammenarbeit vor Ort teilweise schwierig gemacht, da UNICEF während der Belagerung keinen Zugang zum Ostteil der Stadt hatte. Das heißt, wir konnten nur in die Gebiete, die unter Regierungskontrolle standen. Wir haben aber lokale Parteiorganisationen, mit denen wir zusammenarbeiten. Über die konnten wir auch zum Ostteil der Stadt Kontakt halten und Informationen bekommen. Aber Hilfsgüter hineinzuschaffen, war lange Zeit unmöglich. Das geht jetzt immerhin wieder.
domradio.de: Arbeiten Sie auch mit den Rebellen zusammen oder nur mit der Regierung?
Charbonneau: Wir arbeiten mit allen zusammen, die es uns ermöglichen, Zugang zu den Menschen zu bekommen. Dazu gehört selbstverständlich auch die Regierung. Wir arbeiten indes nicht mit ISIS zusammen, da haben wir keinen Kontakt und das wird auch so bleiben. Ansonsten steht für uns im Vordergrund, den Kindern zu helfen und zwar egal in welchen Gebieten sie sich aufhalten und egal wer da gerade die Kontrolle hat. Wir sind keine politische Organisation, uns interessieren die Kinder und ihre Rechte.
Das Interview führte Christoph Paul Hartmann.
Den zweiten Teil des Interviews mit UNICEF finden Sie hier.