Warum ganz Italien gebannt nach Sanremo blickt

70. Auflage des Schlagerfestivals bewegt die Massen

Mit durchschnittlich zehn Millionen Zuschauern und mehr als 50 Prozent TV-Marktanteil hält das Sanremo-Festival die Italiener erneut in Atem. Auch die katholische Kirche kann sich dem nicht entziehen.

Autor/in:
Alexander Pitz
Cover von CDs und Compilations vom Sanremo-Festival / © Kraft74 (shutterstock)
Cover von CDs und Compilations vom Sanremo-Festival / © Kraft74 ( shutterstock )

Nein, es ist kein Fußballspiel, das derzeit ganz Italien in seinen Bann zieht, auch nicht die Politik und kein Ferrari-Rennen. In dieser Woche gibt es nur ein Thema, das sämtliche Schlagzeilen bestimmt - das "Festival della Canzone Italiana" (Festival des italienischen Liedes) im ligurischen Sanremo.

70. Auflage des Schlagerwettbewerbs

Fünf Abende lang, von Dienstag bis zum großen Finale an diesem Samstag, spielen sich bei der 70. Auflage des Schlagerwettbewerbs Szenen wie diese ab: Ein Komiker namens Fiorello (59) betritt als Priester verkleidet das Ariston-Theater, schreitet die Publikumsreihen ab und verteilt Segenswünsche. "Wir brauchen Frieden", sagt der sizilianische Entertainer bedeutungsschwanger. Die Zuschauer applaudieren begeistert. An einem anderen Abend betritt Fiorello mit blonder Perücke und Frauenkleidern die Bühne, stakst unbeholfen in Stöckelschuhen über die Theatertreppe. Wieder tosender Beifall.

Zwischen den Showeinlagen wird freilich viel getanzt und gesungen - mit reichlich Herzschmerz und Amore.

Die Italiener goutieren das vom öffentlich-rechtlichen Sender Rai veranstaltete Spektakel mit sagenhaften TV-Einschaltquoten.

Durchschnittlich mehr als zehn Millionen Menschen verfolgen die abendlichen Darbietungen, die meist bis nach Mitternacht dauern. Der Marktanteil liegt bei 55 Prozent. Egal ob Professor, Busfahrer oder Supermarktkassiererin - geguckt wird quer durch alle Schichten, gerne mit der ganzen Familie und in voller Lautstärke vor dem heimischen Fernseher. Tags darauf erörtert man mit Freunden und Bekannten, welcher der 24 Teilnehmer im Hauptfeld wohl die besten Siegchancen hat.

Ist es vielleicht die römische Sängerin Tosca, die am dritten Abend die meisten Stimmen holte? Oder gewinnt erneut der Sieger von 2017, Francesco Gabbani? Das Endresultat wird in einem komplizierten Verfahren mithilfe von demoskopischer Jury, Journalisten und Televoting ermittelt. Der Siegertitel verspricht enorme Aufmerksamkeit, ein Ticket für den Eurovision Song Contest 2020 in Rotterdam und die Aussicht auf eine große Karriere im Musikgeschäft.

Stars wie Adriano Celentano oder Eros Ramazzotti hervorgebracht

In früheren Jahren hat Sanremo bereits internationale Stars wie Adriano Celentano oder Eros Ramazzotti hervorgebracht.

In anderen europäischen Ländern gibt es keine Unterhaltungssendung, die derart die Massen bewegt. Zum Vergleich: Die Casting-Show "Deutschland sucht den Superstar" verfolgen im Schnitt gerade einmal rund 3,5 Millionen Zuschauer. Doch wie kann ausgerechnet in Italien, einem Land der Hochkultur, ein scheinbar profanes Wettträllern eine solche gesellschaftliche Sogwirkung entfalten?

Ein Grund dürfte in der Nostalgie liegen, die in Sanremo mit Händen zu greifen ist. Seit 1951 begeistert das Festival die Italiener. Die Sternstunden der vergangenen Jahrzehnte sind tief verwurzelt im kollektiven Gedächtnis. Man denke an Ex-Boxweltmeister Mike Tyson, der bei seinem Auftritt vor 15 Jahren den Sanremo-Klassiker "Volare" zum Besten gab. Oder an die anderen unzähligen Weltstars - von David Bowie bis Madonna, die sich in Sanremo auf dem roten Teppich trafen.

Kardinal Gianfranco Ravasi hingerissen

Der Glanz von einst ist heute immer noch spürbar. Wenn, wie am Donnerstagabend, der italienische Oscar-Preisträger Roberto Benigni auf der Bühne aus dem biblischen Hohenlied rezitiert, ist selbst Kardinal Gianfranco Ravasi hingerissen. Der Präsident des Päpstlichen Kulturrats reagierte mit einem wohlwollenden Tweet.

Selbst die katholische Kirche kann sich also dem Einfluss des Festivals nicht entziehen. Im Gegenteil, sie ist aktiv daran beteiligt. Der Bischof von Sanremo, Antonio Suetta, ließ am Mittwoch eigens eine Messe für die teilnehmenden Künstler feiern. Das sei "eine Gelegenheit für einen fruchtbaren Dialog", erklärte der Geistliche. Er erwarte in diesem Jahr wieder "einen wichtigen kulturellen Beitrag" von der Showveranstaltung.

Der Bischof mahnte das Publikum, nicht nur auf Oberflächliches, sondern auch auf die ethischen Aspekte der Darbietungen zu achten.

"Wer in Sanremo auf der Bühne steht, wird durch die Medien zu einem Vorbild für alle, speziell für junge Menschen", sagte er dem katholischen Pressedienst SIR. Daher sei es wichtig, nicht nur Wert auf Worte und Lieder, sondern auch auf das Lebenszeugnis der Interpreten zu legen. Überhaupt könne das Festival durchaus dazu dienen, wichtige gesellschaftliche Themen aufzugreifen.

Wie recht Suetta mit seiner Einschätzung hat, zeigt nicht zuletzt die Debatte über den Auftritt der Journalistin und TV-Moderatorin Rula Jebreal (46). Kurz nach ihrer Einladung hagelte es Kritik gegen die profilierte Gegnerin des Rechtspopulisten Matteo Salvini (Lega).

Jebreal sei als Gast zu politisch, zu links, hieß es. Der Sender Rai erwog eine Ausladung. Doch am Ende durfte Jebreal auftreten. Mit einem ergreifenden Statement gegen Gewalt an Frauen beeindruckte die Italienerin mit palästinensischen Wurzeln auch konservative Kommentatoren. Es war einer jener Momente, die zeigen, dass Sanremo mehr ist als nur banales Geträller.


Quelle:
KNA