Manfred von Holtum muss sich schon etwas anstrengen, um das schwere Portal aufzustoßen. Zügig durchquert er die Vorhalle, um ins Innere des Aachener Doms zu gelangen. Das von massigen Pfeilern getragene Achteck mit dem mächtigen Barbarossaleuchter in der Kuppel steuert der 74-Jährige nicht an – noch nicht.
Routiniert wandert seine Hand in die Gesäßtasche, um einen Schlüssel hervorzuholen. Mit diesem öffnet er eine Gittertür an der Seite, hinter der sich eine Wendeltreppe nach oben schraubt. Zur oberen Etage, in das sogenannte Hochmünster. Die "Seele des Aachener Doms" will der Dompropst zeigen.
"Alleinstellungsmerkmal" der Kathedrale
Der Hausherr der Kathedrale gibt eine persönliche Kirchenführung. Anlass ist ein Jubiläum, das Aachen Ende September mit einer Festwoche begeht. Denn vor 40 Jahren, am 8. September 1978, begründete die Unesco mit dem Dom sowie elf weiteren Bauten ihre Welterbeliste. Auf die kommen nur Stätten mit universell herausragender historischer, künstlerischer oder wissenschaftlicher Bedeutung.
Zugleich war die Kathedrale erstes deutsches Denkmal mit diesem Titel. Warum ausgerechnet der Aachener Dom, das will von Holtum rund 50 Stufen weiter deutlich machen.
Oben angekommen, verweist er auf das "Alleinstellungsmerkmal" der Kathedrale: den Thron von Karl dem Großen (742-814). Auf den Kaiser, der als erster Einer Europas gilt, geht das Kernstück des Doms zurück: das Oktogon, die Marienkirche, in dessen Obergeschoss der Thron seinen Platz gefunden hat. Rund 1.200 Jahre Geschichte verdichten sich hier.
Einst größter Kuppelbau nördlich der Alpen
Das Gotteshaus errichtete der Herrscher an seiner Lieblingspfalz in Aachen. Es entstand vermutlich zwischen den Jahren 793 und 805 und war damals der größte Kuppelbau nördlich der Alpen.
Der Thron wirkt nicht gerade pompös, schwarze Messingkrallen halten schlicht wirkende Marmorplatten zusammen. "Aber hier an diesem Ort hat deutsche Geschichte stattgefunden", betont von Holtum und verweist auf die 32 römisch-deutschen Könige, die nach Salbung und Krönung am Hauptaltar über besagte Treppe nach oben zum Thron stiegen, hier Platz nahmen und laut ein Vaterunser sprachen.
Die Stufen sind übrigens sehr flach – keine Konzession an Gehbehinderte, aber an die Esel, die einst das Baumaterial heraufschleppten.
"Ein mystischer Ort"
Für den Dompropst ist es "ein mystischer Ort", den er selbst gerne zur inneren Einkehr aufsucht, wenn abends der Besucherstrom und der Schallpegel abgeebbt sind. Dann stellt er sich vor, wie die Könige mit Blick auf das Kuppel-Mosaik mit dem Weltenherrscher ihr Amt antraten. Machtausübung in Verantwortung vor einem Größeren – das ist für den Geistlichen ein nach wie vor aktuelles Thema.
Das byzantinischer Ikonographie folgende Mosaik stammt aus dem 19. Jahrhundert. Aber man müsse davon ausgehen, das eine solche Darstellung schon früher existierte, so von Holtum.
Eine Kette um den Thron, zu dem sechs Stufen hinaufführen, sendet die klare Botschaft aus: Ja nicht draufsetzen. Nazi Göring erlaubte sich einst diese respektlose "Barbarei", so von Holtum. Dabei handele es sich doch um eine Reliquie, also ein Überbleibsel einer als heilig verehrten Person.
Heiligmäßige Verehrung trotz Frauengeschichten
Zwar gilt Karl der Große gesamtkirchlich nicht als Heiliger, aber in Aachen darf er als solcher verehrt werden – trotz seiner Kriegszüge und Frauengeschichten. Von Holtum erinnert daran, dass Karl die letzten acht Jahre seines Lebens immer von Weihnachten bis Ostern in Aachen weilte und vom Hochmünster aus morgens, mittags und abends am Chorgebet des Stiftkapitels unten teilnahm – also auch "ein zutiefst frommer Mann" gewesen sei.
Ihm habe sehr am Ursprünglichen des Christentums gelegen. Deshalb erbat er vom Jerusalemer Patriachen die vier im Aachener Dom aufbewahrten Tuchreliquien: laut Überlieferung das in der Geburtsnacht getragene Kleid Marias, die Windel Jesu, sein Lendentuch und das Enthauptungstuch des heiligen Johannes des Täufers.
Mit den Anfängen des Christentums könnte auch der Thron verbunden sein, dessen Marmorplatten laut Dompropst wahrscheinlich vom Heiligen Grab stammen. Wie eine Toilettenkritzelei wirkt das auf eine Platte eingeritzte Mühlespiel. Eine Erklärung: Bei der Kreuzigung Jesu vertrieben sich die Soldaten ihre Zeit mit diesem Spiel.
Das himmlische Jerusalem
Es sind Feinheiten, mit denen von Holtum seine Kathedrale aufschließt – auch am Barbarossaleuchter, seiner zweiten Lieblingsstelle. Das Kunstwerk mit rund vier Metern Durchmesser hängt zentral in der mit filigranen Mosaiken gestalteten Kuppel. Zur Heiligsprechung von Karl dem Großen stiftete Kaiser Friedrich I. Barbarossa im Jahr 1165 den Leuchter. Leitendes Motiv ist – wie im Grundriss – die Symbolzahl acht.
Die Juden erwarten am 8. Tag den Messias, für die Christen ist es der Tag der Auferstehung Jesu. Jeweils acht kleine und große Türme zieren den Leuchter, der ein Abbild der himmlischen Stadt Jerusalem sein soll.
"Das ist der Vorgeschmack des Kommenden", begeistert sich der Dompropst und deutet im gleichen Atemzug noch auf die Platten der Türme. Auf ihnen sind die Seligpreisungen der Bergpredigt zu erkennen, die von Holtum als "Kernrede Jesu" und "Geländer für den Christen" charakterisiert.
Viertwichtigster Wallfahrtsort
Er führt noch zu einer dritten markanten Stelle. Es ist die sogenannte Chorhalle, die 1414, im 600. Todesjahr Karls, eingeweiht wurde. Der an der Ostseite angefügte gotische Anbau bildet einen starken Kontrast zum karolingisch-romanischen Bau.
Er sollte die wachsende Zahl der Wallfahrer aufnehmen, die im Mittelalter zu den Tuchreliquien pilgerten und Aachen nach Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela zum damals viertwichtigsten Wallfahrtsort machten.
Entstanden ist ein "Haus aus Licht" mit rund 25 Meter hohen Fenstern. Die Scheiben in der Apsis zeigen im Stil mittelalterlicher französischer Glasmalerei Bibelszenen und Heilige. "Eine ganz hohe spirituelle Wertigkeit" haben für von Holtum aber auch die beiden Fenster von Anton Wendling. Die von 1949 bis 1951 geschaffenen Werke zeigen wie das 2007 entstandene Richter-Fenster im Kölner Dom "nur" Ornamentik, ohne aber jemals auf Widerspruch gestoßen zu sein.
"Die Kirche Europas"
Das Motiv des himmlischen Jerusalems entdeckt von Holtum auch an diesem Ort: An den Konsolen, die die Figuren der zwölf Apostel und Karl dem Großen tragen, schweben ganz dezent Engelfiguren mit ihren jeweiligen Instrumenten – und deuten so auf die Anklänge der kommenden Welt.
In der Chorhalle haben der Marienschrein mit den Tuchreliquien und der Karlsschrein mit den Gebeinen des Herrschers ihren Platz gefunden, die noch einmal die Geschichte der Kathedrale als Wallfahrts- und Krönungsstätte betonen. Aber nicht nur die Kirche, das ganze Ensemble mit dem bis in die Barockzeit hinzugefügten Kapellenkranz um den karolingischen Bau und der Schatzkammer seien Welterbe, unterstreicht von Holtum.
Er scheut Vergleiche, wagt aber doch einen: Der Petersdom in Rom sei die Kirche der Welt, der Kölner Dom die zentrale Kirche Deutschlands. "Und der Aachener Dom ist die Kirche Europas."
Von Andreas Otto