Abgeordnete Rüffer fordert staatliche Wahrheitskommission

"Der Blick in den Abgrund"

Nach Missbrauchsvorwürfen in der EKD und einem weiteren Bericht im Bistum Trier ist die Bundestagsabgeordnete Corinna Rüffer überzeugt: Die Kirchen schaffen Aufarbeitung nicht alleine. Es brauche eine staatliche Wahrheitskommission.

Corinna Rüffer, Sprecherin für Behindertenpolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen / © Stefan Kaminski (privat)
Corinna Rüffer, Sprecherin für Behindertenpolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen / © Stefan Kaminski ( privat )

DOMRADIO.DE: Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch im Bistum Trier hat an diesem Mittwoch ihren zweiten Zwischenbericht vorgestellt. Ziel der Kommission ist es, die Missbrauchsfälle in der Nachkriegszeit zu erheben und zu analysieren, wie Verantwortliche mit den Tätern umgegangen sind. Weil Trier Ihr Wahlkreis ist, verfolgen Sie die Entwicklungen dort schon lange. Wie bewerten Sie die Ergebnisse des Berichts?

Corinna Rüffer (Bundestagsabgeordnete Bündnis 90/ Die Grünen): Obwohl da nichts Überraschendes drin steht, ist man immer wieder erschüttert. Es werden immer mehr Opfer und immer mehr Täter, die in Rede stehen. Es werden immer mehr Details, Zusammenhänge und Namen bekannt und man kann nur erahnen, wie viel in Zukunft noch aufzuarbeiten sein wird. Was auffällig ist, dass bei dem, was man heute schon tun könnte, vieles noch nicht gewährleistet ist. Etwa eine vernünftige Aktenführung, ein unbürokratischer Umgang mit den Opfern, von denen es in Trier viele gibt. Da stellen sich natürlich Fragen, warum sich da nach so vielen Jahren nichts geändert hat.

Corinna Rüffer

"Ich traue dem Bistum eigentlich die nötige Professionalität und den Sachverstand zu, diese Dinge anders handhaben zu können."

DOMRADIO.DE: Was vermuten Sie: Ist es Unvermögen oder Unwille?

Rüffer: Ich traue dem Bistum eigentlich die nötige Professionalität und den Sachverstand zu, diese Dinge anders handhaben zu können. Ich glaube, sie sollten mittlerweile verstanden haben, dass man so mit den Opfern, die über viele Jahrzehnte gelitten haben, nicht umgehen kann. Daher denke ich, dass Unwille dahinter steckt, ich kann mir das nicht anders erklären. Man muss den Eindruck haben - und den haben auch viele der Opfer - dass hier nicht konsequent aufgearbeitet wird, dass immer noch versucht wird, Dinge aus der Vergangenheit, die immer noch lebende Personen betreffen, nicht transparent gemacht werden. Diese Salami-Taktik beobachten wir jetzt schon seit Jahren.

DOMRADIO.DE: Es wurde auch nochmal der Fall des inzwischen verstorbenen Priesters Edmund Dillinger aufgegriffen, der über Jahrzehnte hinweg seine Taten gefilmt und fotografiert haben soll. Sein Neffe fand nach dessen Tod beim Ausräumen der Wohnung seines Onkels die Bilder mit teils jugendpornografischen Inhalten. Er meldete das und soll dann vom Vorsitzenden der Aufarbeitungskommission Gerhard Robbers den Hinweis bekommen haben, das Material zu vernichten, weil sein Besitz strafbar ist. Herr Robbers stellt das anders dar, aber unterm Strich wurde wichtiges Beweis- und Hinweismaterial vernichtet. Wie kann denn so etwas passieren?

Rüffer: Diese Frage stellen sich viele Beobachter und sollte das den Tatsachen entsprechen, ist jemand wie Herr Robbers in der Position eigentlich nicht haltbar. Man kann nicht begreifen, dass ein solcher Ratschlag tatsächlich im Raum gestanden haben soll. Der Neffe hat das sehr glaubwürdig an unterschiedlichen Stellen wiederholt. Das sorgt für große Unsicherheit, wenn man die Aufarbeitung insgesamt betrachtet. So etwas darf nicht passieren, das ist ein wirklich auffälliger Sachverhalt.

Corinna Rüffer

"Es ging immer um den Täterschutz."

DOMRADIO.DE: Der Bericht sagt auch, dass Täter gerne mal in die Auslandsmission nach Afrika oder Lateinamerika geschickt wurden und Bischöfe über die Taten informiert waren. Bischof Spital und Weihbischof Schwarz beispielsweise. Es ist von "Zusammenarbeit mit dem Sexualstraftäter und Fluchthelfern" die Rede. Dieses Feld wurde noch fast gar nicht beleuchtet, kann die Kirche den Missbrauch in den eigenen Reihen wirklich selbst aufklären und aufarbeiten?

Rüffer: Hier ist noch einmal festgestellt worden, dass es immer um den Täterschutz ging und dass unterschiedliche Leute in Verantwortung keinen Schritt unternommen haben, um die Sachlage aufzuklären, sondern dass viele Würdenträger dazu beigetragen haben, dass sich Täter verstecken und von einem Land ins nächste ziehen konnten, um ihrer gerechten Bestrafung zu entgehen. Das heißt, dass wir auf der Seite eine unbeachtete Anzahl von Opfern zu verzeichnen haben, mit denen sich bisher noch niemand auseinandergesetzt hat. Das ist ein großes Thema, das zu bearbeiten sein wird.

All das deutet im Zusammenhang mit den zuvor besprochenen Dingen - mangelhafte Aktenführung, Bürokratismus, Einschüchterung von Opfern - darauf hin, dass die Kirche auf keinen Fall alleine dazu in der Lage ist, eine adäquate Aufarbeitung zu leisten. Und es kommt ein zweiter Aspekt hinzu: Wir haben es mit Taten zu tun, die über Jahrzehnte stattgefunden haben. Und wir haben es mit einem Staat zu tun, der seinerseits systematisch weggeschaut hat und in der Verantwortung steht, deutliche Schritte zu tun und in die Aufarbeitung aktiv einzugreifen und nicht so zu tun, als könnte jede einzelne Institution dies für sich selber gewährleisten.

DOMRADIO.DE: Was fordern Sie? Ist eine staatliche Wahrheitskommission vonnöten?

Rüffer: Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Es ist egal, wie man das Kind nennt, aber es ist auf jeden Fall notwendig, als Staat nicht weiterhin von der Seitenlinie aus zuzuschauen, sondern konsequente Schritte zu gehen, bei diesen Schritten die Opfer endlich in den Mittelpunkt zu stellen und deren Expertise stärker mit einzubeziehen, als wir das bisher beobachten.

Corinna Rüffer

"Es ist auf jeden Fall notwendig, als Staat nicht weiterhin von der Seitenlinie aus zuzuschauen."

DOMRADIO.DE: Warum gibt es denn bislang so etwas nicht? Die Ampelkoalition ist doch nicht so nah an den Kirchen dran, wie beispielsweise die Union, ließe sich das nicht umsetzen? Die Bischöfe beteuern, das sei in ihrem Interesse. Sie wünschten sich das sogar, aber es mangele an politischem Willen.

Rüffer: Das halte ich ehrlich gesagt für eine mittlere Unverschämtheit: Von Seiten der Kirche zu behaupten, es mangele Aufklärungswillen. Wenn ich mir allein Bischof Ackermann anschaue, der viele Jahre Zeit gehabt hätte, zumindest in seinem Bistum für Ordnung, Aufklärung und Verfolgung von Straftäter zu sorgen: Er hat es nicht getan. Die Verantwortung jetzt auf den Staat zu verlagern, finde ich nicht angemessen.

Die Ampelkoalition hat Anhaltspunkte im Koalitionsvertrag vereinbart, die dazu führen könnten, dass eine ernsthafte Aufarbeitung endlich stattfindet. Es ist natürlich ganz wichtig, dass die Stelle der Unabhängigen Beauftragten gestärkt wird und ein Gesetz gestärkt wird, das zum Beispiel eine Akteneinsicht erleichtert wird und von dort aus kann man intensiver darüber nachzudenken, wie eine systematische Aufarbeitung aus Sicht des Staates zu erfolgen hat.

Was jedoch die Nähe zur Kirche anbelangt, so würde ich das nicht unterschätzen: Wir haben in Deutschland eine sehr enge Verbindung zwischen Staat und Kirche, alleine im Hinblick auf viele soziale Angebote, Verbände, Kindergärten oder Krankenhäuser. Die Verbandsstruktur ist in großen Teilen von den beiden Kirchen geprägt. Da gibt es schon die Befürchtung, zu stark in Konflikte hineinzugehen und damit auch diese Strukturen zu gefährden. Das schwebt - das muss man ehrlich sagen - als Bedenken über allen diesen Diskussionen.

DOMRADIO.DE: Missbrauch gibt es auch in anderen Bereichen: in Vereinen, in Verbänden, in Jugendgruppen. Ist es nicht vielleicht auch die Sorge, dass man damit die Büchse der Pandora öffnet und sich ein Problem von so einer Dimension aufhalst, dass man es nicht mehr kontrollieren kann?

Rüffer: Ja, auch in Einrichtungen der so genannten Behindertenhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe. Wir dürfen nicht übersehen, dass der private Bereich das Haupttäterfeld ist. Natürlich ist das die Büchse der Pandora, der Blick in den Abgrund. Aber wenn man den nicht wagt, wird es auch niemals heller. Wir müssen die Geschichte des Missbrauchs aufklären, aber wir müssen auch die aktuelle Situation in den Blick nehmen und präventiv die Menschen schützen, die Opfer werden könnten. Das ist staatliche Aufgabe. Und ich finde, dass dies auch Aufgabe der christlichen Kirchen in diesem Land ist.

Das Interview führte Ina Rottscheidt. 

Bisher drei Bischofsrücktritte wegen Umgang mit Missbrauch

In Deutschland sind bisher drei amtierende Bischöfe oder kirchenleitende Personen wegen Fehlern im Umgang mit dem Missbrauchsskandal zurückgetreten.

Im Juli 2010 trat die Hamburger evangelische Bischöfin Maria Jepsen in Zusammenhang mit einem Missbrauchsskandal zurück. Der damals 65-Jährigen war vorgeworfen worden, 1999 über Fälle sexualisierter Gewalt in einer Kirchengemeinde in Ahrensburg informiert worden zu sein, ohne ausreichende Konsequenzen gezogen zu haben. Ein Ermittlungsverfahren wurde jedoch bald eingestellt, da laut Staatsanwaltschaft kein Gesetzesverstoß vorlag.

Ein Betroffener von sexuellem Missbrauch durch einen katholischen Priester steht in der Kirche, in der das Verbrechen stattgefunden hat. / © Harald Oppitz (KNA)
Ein Betroffener von sexuellem Missbrauch durch einen katholischen Priester steht in der Kirche, in der das Verbrechen stattgefunden hat. / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
DR