DOMRADIO.DE: Als "coolsten Diktator der Welt” bezeichnet sich Bukele selbst. Dass er am Sonntag wieder bei der Präsidentschaftswahl antritt, steht eigentlich der Verfassung entgegen, die eine direkte Wiederwahl verbietet. Warum geht das trotzdem?
Inés Klissenbauer (Mittelamerika-Referentin beim katholischen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat): Bukele hat, seit er die Regierung in El Salvador 2019 übernommen hat, die Rechtsstaatlichkeit immer weiter abgebaut. Er hat das Friedensabkommen von 1992, das nach jahrelangen Diktaturen, Unterdrückung und Bürgerkrieg im Land geschlossen wurde, als "Farce" bezeichnet und damit auch die Demokratie, denn das Friedensabkommen hatte diese erst ermöglicht.
El Salvador hat auch Fortschritte in seiner demokratischen Entwicklung gemacht. Aber das Problem der exorbitant hohen Gewalt im Land als Erbe des grausamen Bürgerkrieges und das Fehlen von Entwicklungsperspektiven für die Menschen haben die Vorgängerregierungen nicht in den Griff bekommen. Bukele dagegen hat als cooler, medienwirksamer Präsident versprochen, das Land sicher zu machen und die Gewalt zu besiegen.
Dafür hat er das Land militarisiert und dabei zunehmend demokratische Prinzipien missachtet. Er stellte seine Partei vor alle anderen, ließ Richter in illegalen Verfahren austauschen, die ihm dann letztendlich dabei geholfen haben, die Verfassung so umzudeuten, dass seine neuerliche Kandidatur möglich wurde. Das ist schlicht verfassungswidrig.
DOMRADIO.DE: Die Gewalt der Jugendbanden war ein Riesenproblem für El Salvador. Ist es Bukele nicht doch hoch anzurechnen, dass er dieses Problem so effektiv angegangen ist?
Klissenbauer: El Salvador rühmt sich jetzt, von einem der gefährlichsten Länder der Welt zu einem der sichersten geworden zu sein. Im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl hat El Salvador jetzt allerdings die weltweit höchste Anzahl an Inhaftierten und wird seit knapp zwei Jahren im Ausnahmezustand regiert, also unter Aufhebung der fundamentalsten Bürgerrechte.
In der Praxis sieht das so aus, dass in diesen zwei Jahren 75.000 Menschen festgenommen wurden, egal ob sie nun wirklich kriminell waren oder nicht. Sie haben keinerlei Rechte, viele sind unschuldig, die Haftbedingungen barbarisch. Nach Schätzungen sind unter diesen Inhaftierten mindestens 20 Prozent unschuldige Bürger; Hunderte sind schon in den Gefängnissen umgekommen.
Letztlich ist das eine tickende Zeitbombe. Denn an den Ursachen für die Gewalt hat sich nichts verbessert, es gibt weiter keine Arbeit und Entwicklungschancen für die vielen jungen Menschen im Land. Nach wie vor sind viele Salvadorianer und Salvadorianerinnen auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie versuchen vor allem, der großen Armut zu entkommen.
DOMRADIO.DE: Das heißt, Bukele bekämpft in Ihren Augen also Unrecht mit neuem Unrecht. Wie versuchen Sie von Adveniat, betroffene Familien zu unterstützen?
Klissenbauer: Obwohl die Mehrheit der Menschen erleichtert ist, endlich ohne Angst und Schutzgelderpressung wieder in Frieden ihrem alltäglichen Leben nachgehen zu können, regt sich immer mehr Widerstand. Denn nun geht die Angst um, wer als nächstes verhaftet wird – unbescholtene Bürger und Bürgerinnen zum Beispiel, Ernährer Tausender von Familien, die jetzt ohne Einkommen praktisch hungern müssen.
Das Leid vieler Familien ist unerträglich. Die Gewalt wird mit drastischen Maßnahmen bekämpft, zur Schau gestellt und den Betroffenen jegliche Würde genommen. Das ist tägliche Praxis. Auch Häftlinge haben aber Rechte, vor allem die vielen Unschuldigen, die inhaftiert sind und nach wie vor inhaftiert werden.
Tausende von Menschen versuchen verzweifelt, ihre inhaftierten Angehörigen zu finden und rechtlich gegen die willkürlichen Verhaftungen vorzugehen. Wir als Lateinamerikahilfswerk Adveniat unterstützen mit Nothilfen die zurückgebliebenen Familien, damit sie ihr Existenzminimum sichern können. Und wir leisten Rechtsbeistand, bezahlen zum Beispiel Anwälte; die meisten Menschen können sich das finanziell nämlich nicht leisten.
DOMRADIO.DE: Abgesehen von dieser extremen Art der Kriminalitätsbekämpfung hat Bukele vor allem damit Schlagzeilen gemacht, dass er 2021 die virtuelle Währung Bitcoin als Landeswährung eingeführt hat. Was bedeutet das bisher für die Mehrheit der Menschen im Land?
Klissenbauer: Für die Mehrheit der Menschen hat sich das Leben nicht verbessert. Viele sind nach wie vor arm, haben keine Arbeit, schlechte Einkommen sowie unzureichenden Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Ausbildung.
Vor allem die Menschen auf dem Land und in den Armenvierteln am Rand der Städte sind vergessen. Sie leben in Misere, häufig ohne Strom und Wasser, ohne Infrastruktur.
Der Bitcoin hat zwar für Schlagzeilen gesorgt, Menschen mit Geld ins Land gelockt, den Tourismus befördert und dem Land einen Hochglanzanstrich gegeben. Auch die Ausrichtung der "Miss Universum"-Wahlen vor kurzem hat von den Problemen der Angst und Repressionen abgelenkt.
Aber für die meisten Menschen im Land ist der Bitcoin keine Realität. Sie haben noch nicht einmal die Technologien, um ihn überhaupt zu bedienen; er hat ihnen keinerlei Vorteil gebracht.
DOMRADIO.DE: Sie von Adveniat arbeiten in El Salvador seit langem schon mit Kardinal Gregorio Rosa Chávez zusammen. Wie hat er, wie hat sich die katholische Kirche vor der Stimmabgabe am Sonntag positioniert?
Klissenbauer: Heutzutage in El Salvador die Stimme zu erheben, erfordert schon besonderen Mut und bedeutet auch, sich in Gefahr zu bringen. Kardinal Rosa Chávez gibt den Menschen zu denken, wenn er sagt, dass diese Wahl ein Kampf zwischen David und Goliath sei. David – das sind die zur Unbedeutsamkeit geschrumpften, ehemaligen großen Parteien mit kaum bekannten Kandidaten, die gegenüber der omnipräsenten Regierungspartei – dem Goliath – große Nachteile und Repressalien erleiden.
Vom schlafenden Riesen spricht der Kardinal ebenfalls und meint damit die Bevölkerung, die sich von so viel Glanz, Erfolgsbotschaften und falschen Versprechen letztlich um ihre demokratischen Rechte bringen lässt. Dass dieser Riese aufwacht und erkennt, dass Demokratie und Menschenrechte ein hohes Gut und zu verteidigen sind, das hofft Rosa Chávez, das hofft die Kirche. Und dass das eben auch die Menschen erkennen und richtig wählen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.