DOMRADIO.DE: Es sind vor allem die Armen und die Indigenen, die in Peru gegen die amtierende Präsidentin Dina Boluarte auf die Straße gehen. Was wollen sie erreichen?
Martina Fornet Ponse (Peru-Referentin bei Adveniat): Sie wollen Neuwahlen und die Anerkennung ihrer Realität. José Pedro Castillo, der abgesetzte Präsident, war mit seiner Sprache und seiner Herkunft für sie ein Symbol. Er ist einer von ihnen, der weiß, wie es dem Volk in Peru geht und dass ausgerechnet da, wo das meiste Geld gemacht wird, in den Minen im Süden, die Menschen am meisten leiden, am wenigsten zu essen haben und unter der Umweltverschmutzung leiden.
Um das zu verstehen, muss man weit zurück in die Geschichte Perus gehen. Diese Menschen werden seit der Kolonialzeit nicht gesehen und sie werden diskriminiert. Pedro Castillo hatte das erstmals geschafft, er hat diese Menschen repräsentiert und wurde abgesetzt. Das erzürnt die Menschen und bringt sie auf die Straße.
DOMRADIO.DE: Castillo war angetreten, um die soziale Kluft in Peru zu überwinden, denn es gibt einen starken Gegensatz zwischen Stadt und Land, Arm und Reich, Weißen und Indigenen. Warum ist es ihm nicht gelungen?
Fornet Ponse: Pedro Castillo hat es nicht leicht gehabt. Das liegt auch am politischen System Perus. Er wird als Präsident direkt vom Volk gewählt und gleichzeitig wird auch der Kongress gewählt. Das heißt, nicht immer gehört der Präsident der führenden Kongresspartei an. Und genau das war bei den Wahlen 2021 der Fall. Damals gewannen Parteien, die zum rechten Spektrum zählen, während Pedro Castillo für eine linke Partei angetreten war, das heißt, er hatte im Prinzip keine Chance, seine Reformvorhaben durchzusetzen.
Mit ihm als Kandidaten hatte zunächst niemand gerechnet, auch bei der Stichwahl hatten viele noch kein Bild von ihm. Das macht noch einmal deutlich, wie wenig die weiße Elite in Lima über den Rest des Landes weiß, auch wenn sie von ihm abhängig ist, etwa von den Ölimporten oder der Obst- und Gemüseproduktion.
Castillo wusste natürlich, dass er nur diese eine Chance hat, die er bestmöglich nutzen wollte, darum hat er sein Netzwerk aus Familienmitgliedern und denen, die ihn gefördert haben, genutzt. Er war so korrupt wie alle anderen Präsidenten von Peru in der Vergangenheit letztendlich auch. Die sitzen mittlerweile alle in Haft.
DOMRADIO.DE: Wie hat denn bisher die Regierung auf die Proteste reagiert?
Fornet Ponse: Mit massiver Polizeigewalt. Dabei wurden innerhalb von drei Monaten mindestens 60 Menschen getötet und mehrere Hundert verletzt.
Dass die häufig friedlich protestierenden Menschen als Terroristen bezeichnet werden, also gerade die Indigenen aus dem Süden Perus, ist besonders vor dem Hintergrund der Geschichte Perus fatal, weil sie mit linken Guerilla-Bewegungen wie dem "Leuchtenden Pfad" der 80er Jahren gleichgesetzt werden, die damals die arme Landbevölkerung terrorisiert haben.
Das ist ein wirklich kapitaler Fehler und trägt nicht zur Befriedung der Situation bei.
DOMRADIO.DE: Was wäre denn in Ihren Augen eine gute Lösung in dieser festgefahrenen Situation? Tatsächlich Neuwahlen? Das ist eine der Forderungen der Demonstranten.
Fornet Ponse: Das wäre keine gute, aber die bestmögliche Lösung im Moment, um den Menschen Genüge zu tun. Es steht niemand mehr hinter den Kongressabgeordneten und niemand im Volk kann verstehen, warum die Kongressabgeordneten einer Neuwahl noch in diesem Jahr nicht zustimmen. Inzwischen wurden Neuwahlen für 2024 anberaumt.
Aber die Menschen wollen, dass die Kongressabgeordneten jetzt gehen, das Schlagwort lautet: "Que se vayan todos!" Es sollen alle gehen, weil kein Vertrauen mehr da ist, weil die Menschen glauben, dass sich die Kongressabgeordneten nur in die eigene Tasche wirtschaften, dass sie das, was sie für ihre Wahlkampagne ausgegeben haben wieder einnehmen wollen und sich Perspektiven für die Zeit nach dem Kongress schaffen wollen.
Denn in Peru kann niemand in zwei Legislaturperioden für das gleiche Amt kandidieren. Wer jetzt Kongressabgeordneter ist, kann das höchstens fünf Jahre bleiben. Dann muss er fünf Jahre Pause machen und erst dann kann er oder sie erneut kandidieren.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt denn in diesem Konflikt die katholische Kirche und kann sie möglicherweise vermitteln?
Fornet Ponse: Kirche ist vor Ort. Wenn zum Beispiel eine Polizeistation eingekesselt wird, dann stellt sich der Pfarrer hin und versucht zu vermitteln, damit man eine friedliche Lösung findet. Es gab von der peruanischen Bischofskonferenz im Januar und Februar mehrere Verlautbarungen, die sich für Vermittlungen auf nationaler Ebene einsetzen und zu einem Ende der Gewalt aufrufen.
Wir haben in Peru in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass Kirche zum Beispiel bei Bergbau-Konflikten ein guter und anerkannter Vermittler ist. Die Stellung der Kirche in Peru ist immer noch eine sehr machtvolle. Insofern glaube ich, dass es da Möglichkeiten gibt, wenn beide Parteien dazu bereit sind.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.