Äthiopischer Bischof beschreibt dramatische Lage in Tigray

"Krieg hat uns die Jugend geraubt"

Seit November 2022 herrscht offiziell Frieden in der Krisenregion Tigray. Trotzdem leiden die Menschen dort immer noch unter Hunger, Armut und Zerstörung. Der Bischof von Adigrat wirbt für Wiederaufbau - physisch wie psychisch.

Eine Frau sitzt neben einem Sack mit Weizen, nachdem dieser in der Region Tigray im Norden Äthiopiens verteilt wurde. / © Ben Curtis/AP (dpa)
Eine Frau sitzt neben einem Sack mit Weizen, nachdem dieser in der Region Tigray im Norden Äthiopiens verteilt wurde. / © Ben Curtis/AP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Tigray im Norden Äthiopiens wurde von 2020 bis 2022 blutig umkämpft. Ihr Bistum Adigrat umfasst die ganze Region. Zwei Jahre nach dem Krieg ist das Leiden heute immer noch groß. Wie geht es den Menschen in Ihrem Bistum?

Tesfaselassie Medhin / © Renardo Schlegelmilch (DR)
Tesfaselassie Medhin / © Renardo Schlegelmilch ( DR )

Tesfaselassie Medhin (Bischof der Eparchie Adigrat der äthiopisch-katholischen Kirche): Vor dem Krieg war Tigray eine sehr dynamische Region. Die Kämpfe haben unsere Heimat von Grund auf verwüstet, physisch wie psychisch. Die Leben der Menschen wurden zerstört, sowohl derer, die zu uns gekommen sind, um uns anzugreifen, aber auch der Menschen, die ewig schon hier lebten. Man spricht davon, dass eine Million Menschen ihre Lebensgrundlage verloren haben. Im Schnitt ist hier jeder für fünf Menschen verantwortlich, am Ende leiden also über fünf Millionen Menschen unter Hunger, Armut und Zerstörung. 

Dieser Krieg war in den Jahren 2020 bis 2022 der tödlichste auf der ganzen Welt. Selbst zwei Jahre nachdem diese tiefen Wunden gerissen wurden, leiden unsere Menschen noch immer. Gott sei Dank wurden mit dem Friedensvertrag von Pretoria im November 2022 die aktiven Kämpfe mehr oder weniger beendet. Im Moment leben wir aber unter einer de facto Besatzung und über eine Million Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Mütter, Kinder und Alte leben in Zeltstädten. Die Kinder können keine richtigen Schulen besuchen. 

Tesfaselassie Medhin

"Dieser Zustand ist furchtbar und erschüttert unsere gesamte Gesellschaft."

Dieser Zustand ist furchtbar und erschüttert unsere gesamte Gesellschaft. Es gibt nicht genug Medizin oder Nahrungsmittel. In den besetzten Gebieten sind immer noch über 500 Schulen geschlossen. Sie können sich vorstellen, wie es um die Bildung unserer Jugend steht. Die Pandemie hat da einen zusätzlichen Schlag verpasst. Darunter leiden auch unsere katholischen Schulen.

Wir leben also in einer extrem kritischen Lage, weil auch viele junge Leute mit Potential unsere Heimat verlassen. Sie haben schlicht und einfach keine Perspektive. Deshalb nehmen sie sehr gefährliche Fluchtwege auf sich. 

Meine größte Sorge als Bischof ist aber die Spaltung, die durch diese ganzen Wunden geschaffen wurde. Wir brauchen Heilung und Frieden. Dafür braucht es intensive Sozialarbeit, die für unsere Kirche eine Priorität hat. Jetzt, in dieser Nachkriegslage sind zwar Kämpfe und Gewalt zum großen Teil beendet, aber die jungen Leute sehen einfach keinen Sinn mehr im Leben. Das wird zu einem sozialen Problem und einem Sicherheitsproblem. Der Krieg hat ganze Städte und Regionen bei uns verwüstet und schlicht uns einfach die Jugend geraubt. 

DOMRADIO.DE: Vor ein paar Wochen haben Sie auch noch mal in einem Aufruf auf das Leid ihres Volkes aufmerksam gemacht. Welche Rolle spielt denn die Kirche im Prozess des Wiederaufbaus?

Medhin: Die Kirche hat eine doppelte Mission hier. Einmal auf spiritueller Ebene zu stabilisieren, zu helfen, Fürsprache auszusprechen. Wir sind aber auch engagiert, die physischen Strukturen wieder aufzubauen. Das braucht natürlich viel Zeit. 
Uns war es dabei wichtig, dass unsere Priester auch in der Zeit des Krieges beim Volk geblieben sind. Man kann nicht Hoffnung spenden, wenn man nicht unter den leidenden Menschen ist. Dafür bin ich sehr dankbar allen Laien, Ordensleuten, Missionaren und Priestern, die auf diese Weise ihr Zeugnis des Leiden Christi auch in dieser schweren Situation abgegeben haben. Jesus ist zwar unser Retter, aber wir Menschen spielen auch eine Rolle. Da sind wir auch sehr dankbar für die Hilfe, die die katholische Kirche uns spendet, sowohl durch finanzielle Mittel als auch durch die spirituelle Nähe.

Tesfaselassie Medhin

"Man kann nicht Hoffnung spenden, wenn man nicht unter den leidenden Menschen ist."

DOMRADIO.DE: Sie gehören der äthiopisch-katholischen Kirche an, also der ostkirchlichen Tradition, aber in Einheit mit dem Papst in Rom. In Äthiopien ist Ihre Kirche eine Minderheit. Welche Rolle spielt Ihre Religionsgemeinschaft im Land?

Medhin: Meine Kirche ist keine Minderheit, weil wir weltweit 1,3 Milliarden Menschen sind. Es stimmt aber, wir sind eine Minderheit in Äthiopien. Wir sind nicht viele Leute, aber gerade unsere Arbeit im sozialen Bereich oder im interreligiösen Dialog hat einen großen Einfluss im Land. Alles im Bereich von Bildung, Gesundheit und Umweltschutz, da haben wir als Kirche schon einen Einfluss. 

Die Kirche versucht sich auch im Bereich der Politik zu engagieren, dadurch, dass wir versuchen unsere christlichen Werte in die Diskussion einzubringen. Wir sind nicht parteiisch, wir sind nur parteiisch für das Evangelium. Auf der ganzen Welt kann die Kirche ein Instrument des Friedens, der Liebe und auch des Heilens werden. In meinem Bistum haben wir die große Aufgaben, die verfeindeten Volksgruppen nach dem Krieg wieder ins Gespräch zu bringen, dabei helfen uns auch die anderen Religionsgemeinschaften und auch die staatlichen Stellen. Wir brauchen einen Plan, wie wir die Wunden heilen können. Bei der Versöhnung spielt die Kirche eine lebenswichtige Rolle. 

DOMRADIO.DE: Wofür steht Ihre äthiopisch-katholische Kirche? Das ist eine Konfession, die vielen sicher nicht wirklich geläufig ist?

Medhin: Wir sind nicht die römisch-katholische Kirche, sondern die äthiopisch-katholische. Das bedeutet, dass uns der katholische Glaube durch die Gemeinschaft mit dem Stuhl Petri und dem Heiligen Vater den anderen Katholiken auf der ganzen Welt vereint. Es gibt 21 verschiedene katholische Riten auf der Welt, unser äthiopisch-alexandrischer Ritus ist einer davon. Die Missionare haben damals den katholischen Glauben des lateinischen Ritus in unser Land gebracht. Ein anderer Ritus, aber das Bekenntnis ist das gleiche. In einigen Gegenden haben sich die Missionare den lokalen Gegebenheiten angepasst. Es gibt also in unserem Land Katholiken nach römischen und nach ostkirchlichem Ritus.

Aber am Ende spielt es gar nicht wirklich eine Rolle, welcher Konfession wir angehören. Ob wir nun katholisch, orthodox, protestantisch oder was auch immer sind. Es gibt viel, viel mehr, das uns verbindet als uns trennt. 

DOMRADIO.DE: Wie sieht denn ihre Beziehung zu den orthodoxen Christen und den anderen Glaubensgemeinschaften in Äthiopien aus?

Medhin: Da gibt es nicht wirklich Probleme. Das sieht gut aus. Gerade mit der orthodoxen Kirche haben wir ja sehr viele Gemeinsamkeiten. Die Sakramente, die Lehren der Apostel. Das ist alles mehr oder weniger das gleiche. Natürlich werden Ihnen die Theologen etwas anderes sagen, aber das spielt für die meisten Getauften keine große Rolle. Der Mensch hat ein Gefühl dafür, dass Gott ihn geschaffen hat. Darauf sollten wir uns konzentrieren, nicht auf die Trennlinien.

Bei uns In Tigray haben wir nur eine Diözese, die Eparchie Adigrat, deren Bischof ich bin. Wir nehmen 130.000 Quadratkilometer ein. Wir leben hier ohne Probleme als Minderheit. Wo wir können, schließen wir uns mit Andersgläubigen zusammen, auch zum Gebet. Wir haben auch einen Rat der Religionen und haben gegenseitig großen Respekt. 

Wir haben unsere soziale Arbeit als Kirche angesprochen. Obwohl wir nur eine Minderheit sind, ist die Zahl der Menschen, denen wir helfen weit größer als nur die Katholiken. Ich denke 80% unserer Hilfsempfänger sind nicht katholisch. Sie können sich also vorstellen, dass unsere Kirche versucht die Welt besser zu machen, weit über unsere Konfession hinaus. 

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Quelle:
DR