DOMRADIO.DE: Sie waren damals 19, als sie auf dem Boot geflohen sind. Wie gegenwärtig ist ihnen die Situation von damals heute noch, in dieser Nussschale auf dem offenen Meer zu treiben?
Van-Hong Le: Diese sogenannten Nussschalen kann man derzeit leider oft im Fernsehen sehen. Und das erinnert mich natürlich sehr stark an die Zeit, wo ich selbst in so einer Nussschale mit anderen Menschen unterwegs war. Auch wenn es lange zurückliegt, erinnert man sich sehr stark.
DOMRADIO.DE: Damals ist die Cap Anamur aufgetaucht und das war für Sie die Rettung. Wie erinnern Sie sich daran heute mit dem Abstand all der Jahre?
Le: Die Erinnerung ist sehr wach geblieben, sehr lebendig sogar. Damals war ich 19 Jahre alt und ich hatte noch mein Leben vor mir. Über die Flucht hatte ich damals wenig nachgedacht. Sie war sicher auch mit ein wenig Abenteuerlust verbunden. Die Gefahr auf dem Meer war dann eine ganz andere Sache. Wir haben einige Stürme erlebt, bekamen Probleme mit dem Trinkwasser. Daher waren wir alle froh, als die Cap Anamur aufgetaucht ist. Das war die Rettung! Und als wir letztendlich auf dem Schiff waren, habe ich gedacht: "OK, das Ziel ist erst mal erreicht."
DOMRADIO.DE: Christel und Rupert Neudeck hatten damals das deutsche Komitee "Ein Schiff für Vietnam" gegründet und die Cap Anamur organisiert – gegen viele Widerstände. Wie dankbar sind Sie dafür?
Le: Christel und Rupert Neudeck kenne ich persönlich. Ich habe sie auch ein paar Mal besucht. Das sind sehr nette Menschen. Für die geretteten Vietnamesen sind sie aber auch eine Art neue Eltern. Sie haben uns eine neue Heimat geschenkt – nicht nur im Glauben, sondern auch insofern, dass wir überhaupt hier sind und in Freiheit und Wohlstand leben dürfen. Das kann man nicht zurückgeben.
DOMRADIO.DE: 40 Jahre später ist das Thema Seenotrettung wieder ein heißes Eisen in Europa. Private Seenotretter auf dem Mittelmeer werden öffentlich angeprangert, müssen mit Strafverfolgung rechnen. Wenn Sie das sehen, was haben Sie da für Gefühle?
Le: Das tut mir weh. Besonders die Geschichte mit der Kapitänin Carola Rackete. Ich glaube, als Christen sind wir dazu geboren, Menschen zu retten. Das ist ein Grundsatz, der auch in der Geschichte vom barmherzigen Samariter sehr deutlich wird.
Die Situation war für uns damals genauso. Wären wir damals nicht gerettet worden, dann wären wir nicht nach Deutschland gekommen, sondern vielleicht irgendwo in den Bäuchen der Fische gelandet. Die Seenotrettung ist eine menschliche Aufgabe. Und ob man die Menschen hinterher woanders hin verteilt, wie sie verteilt werden, ist eine andere Sache. Aber wenn Menschen in Not sind, dann müssen sie gerettet werden. Die Debatten zu dem Thema sind zwar sachlich verständlich, aber haben oft die Grenzen der Menschlichkeit überschritten.
DOMRADIO.DE: Was würden Sie denn denjenigen gerne mal sagen, die die Seenotrettung am Liebsten ganz einstellen würden?
Le: Ich würde sagen, das Wort Menschlichkeit hat mit Menschen zu tun. Und solange wir Menschen sind, müssen wir auch menschlich bleiben. Als Christen sind wir sogar dazu verpflichtet. Jesus hat nicht verlangt, dass der rettende Mensch den Geretteten zu sich nehmen muss. Er hat nur gesagt, es soll geholfen werden. Ich will niemanden belehren, aber ich glaube, dass Europa auch heute noch an den Ursachen von Flucht beteiligt ist. Deswegen ist es nicht nur eine menschliche Pflicht, sondern auch eine Art Wiedergutmachung gegenüber den Menschen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.