Angehörige von Corona-Opfern blicken zurück

"Am Anfang war ich sehr wütend"

Vor rund einem Jahr kam es im Wolfsburger Hanns-Lilje-Heim zu einem massiven Corona-Ausbruch. 47 Bewohner starben. Für die Angehörigen ist das bundesweite Gedenken am Sonntag ein Ausdruck von Wertschätzung und Anerkennung ihres Leids.

Autor/in:
Julia Pennigsdorf
Frau blickt aus dem Fenster / © Chayanin Wongpracha (shutterstock)
Frau blickt aus dem Fenster / © Chayanin Wongpracha ( shutterstock )

Das letzte Bild seiner Mutter wird Ingo Fritzsche immer im Herzen tragen. Es ist Anfang März 2020. Der 55-Jährige steht mit seiner Mutter im Eingang des Hanns-Lilje-Heims in Wolfsburg.

Weiter darf er nicht. Bereits damals, wenige Tage, nachdem der erste Corona-Fall in Niedersachsen bestätigt wurde, galten Hygienevorschriften und Kontaktbeschränkungen in dem von der Diakonie betriebenen Pflegeheim. Fritzsche klönte mit seiner Mutter, legte ihr Zeitungen und ihre Lieblingssüßigkeiten in den Korb ihres Rollators.

Dann winkte er zum Abschied. "Auf eine Umarmung haben wir lieber verzichtet", sagt Fritzsche und fügt hinzu: "Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich sie an diesem Tag zum letzten Mal sehe."

Fast die Hälfte starb

Ingrid Fritzsche starb am 2. April um vier Uhr morgens im Alter von 81 Jahren. Sie hatte sich mit dem Coronavirus infiziert - wie 111 weitere hochbetagte Bewohnerinnen und Bewohner des von der Diakonie betriebenen Heims. Mehr als 40 Beschäftigte steckten sich zwischen März und April 2020 an. 47 Bewohner starben, mehr als in jedem anderen Pflegeheim in Deutschland.

Das Lilje-Heim gelangte bundesweit in die Schlagzeilen. Sogar Strafanzeige wurde erstattet. Der Vorwurf: mangelnde Hygiene- und Arbeitsbedingungen. Das Verfahren wurde im Januar dieses Jahrs eingestellt.

Insgesamt starben in Deutschland bislang mehr als 79.000 Menschen nach einer Covid-19-Infektion. Dass ihrer am Sonntag bundesweit gedacht wird, freut Ingo Fritzsche. "Ich bin froh über die Initiative des Bundespräsidenten", sagte der Maschinenbau-Ingenieur. "Es ist eine Art von Wertschätzung, ein Zeichen, dass wir wahrgenommen werden. Man spürt, man ist nicht allein."

Geduldige Pflegekräfte

Sabine Pietrallas Mutter hat den Corona-Ausbruch im Hanns-Lilje-Heim überlebt. Sie hatte sich am 28. März 2020, ihrem 80. Geburtstag, infiziert. "Am 12. März habe ich meiner Mutter das letzte Küsschen gegeben, bevor mein 84-jähriger Vater, meine Schwester und ich sie vier Monate nicht mehr besuchen konnten", sagt Pietralla. Dass die Familie die Zeit der Trennung trotz aller Sorgen gut überstanden hat, führt die 53-Jährige auf die gute Betreuung im Lilje-Heim zurück.

Die Pflegekräfte hätten sich immer liebevoll um die Bewohner gekümmert, sagt sie. "Auch in der Krise haben sie, obwohl sie echt am Limit waren, einen großartigen Job gemacht." Vor allem die Geduld der Pflegerinnen und Pfleger hat sie beeindruckt. "Ich habe zweimal täglich angerufen, weil ich mich so um meine Mutter sorgte. Nie hat jemand genervt reagiert."

Seit vergangenem Sommer kann die Familie Helga Pietralla, die schwer dement ist, wieder besuchen. Anfangs allerdings nur in voller Schutzmontur und hinter Glas. "Das hat mir das Herz gebrochen." Sabine Pietralla ist glücklich, dass es jetzt Corona-Tests gibt. Erst vor wenigen Tagen war sie mit ihrer Mutter im Rollstuhl draußen. Auf einer Bank haben sie gesessen und Marzipan genascht. "Meine Mutter hat meine Blicke erwidert und meine Hand gedrückt. Es war ein wahrer Glücksmoment."

Anerkennung für das Leid

Wie Ingo Fritsche begrüßt auch Elke Mangelsdorff die Gedenkfeier für die Corona-Toten mit Bundespräsident Steinmeier in Berlin. "Ich empfinde es als eine Anerkennung unseres Leids", sagt sie. Die 64-Jährige hat ihre Mutter Rosamunde Wachsmuth verloren, ebenfalls Bewohnerin des Hanns-Lilje-Heims. Als die Tochter, die in der Schweiz lebt, vom Heim informiert wird, dass es der schwer demenzkranken 85-Jährigen aufgrund ihrer Corona-Infektion zunehmend schlechter geht, setzt sie sich in ihr Auto und fährt die rund 800 Kilometer von ihrem Heimatort Zug nach Wolfsburg.

Kein einfaches Unterfangen. "Die Grenzen waren eigentlich dicht", sagt sie. Eine Bescheinigung des Hanns-Lilje-Heims über den Gesundheitszustand der Mutter half, und Mangelsdorff durfte die Grenze passieren. Sie kam gerade noch rechtzeitig. Drei Stunden saß sie bei ihrer Mutter, bevor diese am Abend des 8. April 2020 starb.

"Wir haben gebetet, und ich konnte ihr noch sagen, was mir wichtig war", sagt die ehemalige Kriminalkommissarin. Doch obwohl sie im Gegensatz zu vielen anderen Abschied nehmen konnte, hadert Mangelsdorff auch heute noch mit dem Geschehenen. "Ich weiß, dass es nicht anders ging. Besuche waren in den Wochen vor ihrem Tod streng untersagt. Und doch habe ich Schuldgefühle, weil ich nicht schon früher bei ihr war."

Trauer und Verzweiflung als ständige Begleiter

Ingo Fritzsche kann das gut nachvollziehen. "Mich treibt das heute noch um, dass meine Mutter ohne mich sterben musste. Ich frage mich, ob ich hartnäckiger hätte sein müssen, um zu ihr zu gelangen." Selbstvorwürfe, Wut, Hilflosigkeit: Fritzsche kennt die Achterbahn der Gefühle.

"Am Anfang war sich sehr wütend", erzählt er. "Wer hätte gedacht, dass das Heim, in dem sich meine Mutter so wohl fühlte, zu einer Falle werden würde?" Sein anfänglicher Zorn sei zwar inzwischen verflogen, sagt Fritsche. "Doch Trauer und Verzweiflung begleiten mich noch immer."


Quelle:
epd
Mehr zum Thema