Annette Schavan blickt zu ihrem 70. Geburtstag auf CDU und Kirche

"Abschreckendes Maß an Aggressivität"

Sie saß am Kabinettstisch, im Landesministerium und oft beim Papst. Annette Schavan ist politisch weit herumgekommen. Der Politikerberuf ist ihrer Meinung nach hart. Das sei aber in früheren Zeiten nicht anders gewesen.

Autor/in:
Anna Mertens
Annette Schavan / © Julia Steinbrecht (KNA)

Annette Schavan (CDU) kennt nicht nur die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel gut. Auch Friedrich Merz erlebt sie seit mehr als 30 Jahren. Sie hat Landes-, Bundes- und Vatikanpolitik hautnah miterlebt. Zu ihrem 70. Geburtstag im Juni blickt sie auf die Politik heute - im Land, Bund und Vatikan.

KNA: Sie haben viele Wahlkämpfe erlebt, wie haben Sie den vergangenen empfunden?

Annette Schavan (CDU-Politikerin und frühere deutsche Vatikan-Botschafterin): Wahlkampf ist kein akademisches Oberseminar. Aber dieser Wahlkampf war mir zu laut, zu apodiktisch, zu wenig bedenkend, dass am Tag nach der Wahl niemand die absolute Mehrheit hat und nix pur durchsetzt. Es fehlte Kompromissfähigkeit für eine künftige Koalition.

KNA: Nach dem Aus der Ampel-Koalition wurden mangelnde Kompromissfähigkeit und Kommunikation beklagt. Wo lag Ihres Erachtens das Problem?

Schavan: Ob eine Koalition funktioniert oder nicht, ist vor allem eine Führungsfrage. Man muss ein Gespür dafür bekommen, was dem anderen wichtig ist, von Themen über Begriffe. Der oder die Führende
muss sicherstellen, dass es fair zugeht und die Bürger den Eindruck gewinnen, die Koalition will etwas hinbekommen. Diese Führung, die auch zu einer gewissen Großzügigkeit untereinander führt, war bei der Ampel schnell vorbei.

KNA: Welche Erwartungen haben Sie an die kommende Bundesregierung?

Schavan: Es muss klappen. Der Blick in den Plenarsaal zeigt eine Stärke der AfD und eine wiedergewonnene Stärke der Linken. Die Demokraten müssen sich daher klar sein, was unvereinbar ist mit der demokratischen Kultur. Und es muss sich zügig an ein oder zwei Stellen etwas zum Positiven verändern. Teils werden Themen derzeit nur rhetorisch verhandelt. Das ist Wasser auf die Mühlen der Demokratieverächter von rechts und links.

KNA: Wo kann zeitnah etwas erreicht werden, etwa bei der Migrationspolitik?

Schavan: In der Migrationsfrage liegt meine Position nahe bei den Kirchen. In einer durchschnittlichen Grundschulklasse in Deutschland sind heutzutage zwölf Sprachen und acht Religionen präsent. Ich darf
also nicht immer und immer sagen, welche Probleme es gibt, sondern muss die Chancen sehen. Für Abschiebungen auf der anderen Seite braucht es Europa. Zugleich ist der Eindruck falsch, nur die Migration bewege die Menschen. Das stimmt nicht.

Annette Schavan

"Die Bürger sind klug, nur ein kleiner Teil erwartet Illusionäres."

KNA: Was bewegt die Menschen noch?

Schavan: Nehmen Sie die Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum. Oder die Mobilität. Dort herrscht teils das Gefühl, dass die Städter bestimmen, was mit den Menschen auf dem Land passiert. Die Folge ist, dass sich eine Gruppe abgehängt fühlt. 

In der Stadt ist es mehr die Frage nach bezahlbarem Wohnraum. Dabei könnte insbesondere bei Themen, bei denen Bund, Länder und Kommunen gemeinsam beteiligt sind, in 12 oder 24 Monaten sichtbar etwas erreichbar werden. Die Bürger sind klug, nur ein kleiner Teil erwartet Illusionäres.

KNA: Kurz vor der Wahl haben die Kirchen ein Papier veröffentlicht und eine von der Union geplante Verschärfung der Migrationspolitik kritisiert. Hat Sie das irritiert?

Schavan: Nein. Ich fand die Erklärung der Kirchen richtig. Und ich habe mich erinnert an frühere harte Auseinandersetzungen, etwa bei der Stammzellforschung. Streit gehört zur demokratischen Kultur. Die Gesamtsituation ist aber eine andere. Die Kirche hat Autorität verloren, und in der CDU gibt es mehr kirchenferne Politiker. 

Für mich heißt das, beide müssen sich noch mehr füreinander interessieren. Das Schlimmste wäre Gleichgültigkeit. Wer das C im Parteinamen trägt, muss sich mit einer solchen Kritik auseinandersetzen.

Annette Schavan

"Die Kirche hat Autorität verloren, und in der CDU gibt es mehr kirchenferne Politiker."

KNA: Die Kirchen haben wie viele andere auch kritisiert, dass die CDU bei einer Bundestagsabstimmung die Zustimmung der AfD hingenommen hat. Kommt so etwas unter einem Kanzler Friedrich Merz wieder vor?

Schavan: Die AfD möchte, wie Maximilian Krah klar gesagt hat, die CDU zerstören, um in der politischen Mitte anzukommen. Das weiß die CDU. Auf der anderen Seite gibt es Situationen in der Kommunalpolitik in Ostdeutschland, da rate ich pragmatisch zu sein. 

Im Reichstag geht es aber um Klarheit und Grundsätzliches. Ich kenne Friedrich Merz seit mehr als 30 Jahren. Es mag schick sein, ihm etwas anzuhängen. Aber er hat keinen Hang zu rechten Positionen und das CDU-Präsidium auch nicht. Da besteht keine Gefahr. Auf Friedrich Merz ruht eine große Verantwortung. Wer an der Spitze steht, wird durchleuchtet und erlebt viele einsame Zeiten.

KNA: Verändert die AfD das politische Miteinander?

Schavan: Die politische Debatte hat ein abschreckendes Maß an Aggressivität erreicht. Auch früher gab es heftige Debatten, aber der Gegner war nicht der Feind, es ging nicht rhetorisch um die Vernichtung des Gegenübers. Das beschleunigt das Misstrauen. 

Die AfD muss mit ihren Debatten von Inhaltlichem ablenken. Die Partei hat kein eigenes Programm oder Zukunftsaussichten. Sie verspricht die alte schöne Welt und weniger Komplexität. Das ist illusorisch.

KNA: Ist der Politikerberuf härter geworden?

Schavan: So wirkt es. Viele junge Politiker geben viel schneller auf als früher. Zugleich gab es immer harte Realitäten, etwa in der Nachkriegszeit oder zu Zeiten der RAF. Da ging eine Angst durch die Gesellschaft. Wer auf der politischen Bühne steht, sollte also nicht sagen, so hart war es nie. Politik ist hart, aber es ist immer noch Politik in einer Demokratie.

Annette Schavan

"Wer auf der politischen Bühne steht, sollte also nicht sagen, so hart war es nie."

KNA: Sie kennen nicht nur Landes- und Bundespolitik, sondern auch Vatikandiplomatie. Haben Sie noch viel Kontakt nach Rom?

Schavan: Als ich zurückkam, habe ich mir vorgenommen, eine Spur italienischer Lebensart zu behalten. Diese Verbindung von Gelassenheit und Kreativität auch im größten Chaos hat eine große Faszination. Ich habe weiterhin regen Kontakt zur Botschaft und der Gemeinschaft Sant'Egidio. 

Ich finde das Pontifikat von Papst Franziskus sehr inspirierend. Er hat die Kultur und das Denken im Vatikan verändert - weg von Europa hin nach Lateinamerika, Asien oder Afrika. Er hat die Weltkirche in den Mittelpunkt gerückt.

(ARCHIV) Merkel und Schavan bei Papst Franziskus / © Cristian Gennari (KNA)

KNA: Immer wieder wurde Papst Franziskus vorgeworfen, er verstehe die deutsche katholische Kirche nicht. Stimmt das?

Schavan: Ich habe in Rom oft gesagt, dass ich die Botschafterin aus dem Land der Reformation bin. Es hat also immer eine gewisse Ambivalenz gegeben. Eine Zeit lang schien es zudem so, als ob Deutschland sehr eigene Themen habe, etwa die Rolle der Frauen in der Kirche. Aber die Weltsynode hat gezeigt, das dem gar nicht so ist. Auf der anderen Seite hat Franziskus sicher eine andere Mentalität als wir Deutschen.

KNA: Papst Franziskus war schwer krank, es kursierten wildeste Gerüchte zu seiner Person und wie es weitergeht. Für wie wahrscheinlich halten Sie einen Rücktritt?

Schavan: Er selbst hat gesagt, dass wenn eine Situation käme, in der er nicht mehr könne, ein Rücktritt denkbar wäre. Aber gerade die vergangenen Wochen mit ihren teils würdelosen Debatten haben gezeigt, dass sich dieser Papst mit Haut und Haar seiner Aufgabe, seiner Mission hingibt. In einer Zeit, in der alles auf Konfrontation steht, bietet die Weltkirche unter ihm als Global Player eine bedeutende Alternative.

Das Interview führte Anna Mertens.