DOMRADIO.DE: Wie sensationell ist dieser Fund für Sie als Archäologe?
Prof. Dr. Markus Scholz (Professor für Archäologie an der Goethe-Universität in Frankfurt): Mit dem Wort Sensation muss man ein bisschen vorsichtig umgehen. Das wissen wir alle. Es gibt aber eine Reihe von Punkten, die diesen Fund herausheben.
Erstens ist es die frühe Zeitstellung. Es lasst sich in das zweite Drittel des 3. Jahrhunderts datieren, in die Zeit zwischen 220 bis 270 nach Christus. Damit ist das Stück die erste und älteste authentische Quelle, die erste Primärquelle, für Christentum nördlich der Alpen.
Es gibt zwar eine historische Überlieferung des Bischofs Irenäus von Lyon, einen ersten, bekannten, gallischen Bischof aus der Zeit um 177 nach Christus. Der schildert dort Pogrome gegen Christen, die im Rhonetal stattgefunden haben. Er erwähnt ebenfalls, dass Christus in allen möglichen Teilen der Welt verehrt wird, unter anderem in Germanien. Da gibt es aber zwei verschiedene Versionen und das ist die Frage, ob das nicht ein Topos ist oder ob das authentisch ist. Das ist hochumstritten.
Zweitens ist es der Klartext. Es ist ein lateinischer Text mit griechischen Elementen im Namen Jesu Christi. Jesus Christus ist mit griechischen Buchstaben abgekürzt und das "heilig, heilig, heilig" in Latein geschrieben, aber "agios, agios, agios" auf Griechisch formuliert.
Ansonsten ist es ein rein lateinischer Text. Das ist für diese Quellengattungen, diese Schutzamulette auf Edelmetall, die um diese Zeit erst beginnt, sehr ungewöhnlich. Eigentlich ist dieser Satz immer auf Griechisch geschrieben, egal welche Sprache dahintersteht.
Drittens gehört dazu, dass das Ganze im Kontext gefunden worden ist. Es ist kein Lesefund. Es ist nicht vom Kunstmarkt, sondern "in situ" im Grab, so wie diese Person das Amulett getragen hat.
Viertens lassen sich aus dem Text Elemente ableiten, die überraschend sind. Beim "hagios, hagios, hagios", beim Sanctus, das heute in der katholischen Liturgie den Höhepunkt der Messfeier, die Eucharistiefeier, einleitet, war man bisher der Meinung, dass sich das erst im vierten Jahrhundert entwickelt habe.
Jetzt haben wir ein deutlich älteres Zeugnis für diese formelhafte beziehungsweise fromme Verwendung. Das gilt ebenfalls für die lateinische Version des Philipper-Briefs des Paulus. Da muss nun überprüft werden, ob das die älteste Quelle ist, die es dafür bisher gibt. Da ändert sich schon einiges.
DOMRADIO.DE: Das Amulett ist zusammengerollt dreieinhalb Zentimeter groß, also ziemlich klein. Wie hat man da das Alter feststellen können?
Scholz: Ausgerollt ist es so groß wie ein halber Bierdeckel, neun Zentimeter hoch und dreieinhalb Zentimeter breit. Das Alter lässt sich archäologisch feststellen. Auf der einen Seite aufgrund des Kontextes, da wir eben das Grab mit seinen Beigaben haben. Diese sind in die genannte Zeit zu datieren.
Zudem haben wir die Einbettung des Grabes ins Gräberfeld insgesamt, das ist ein Körpergräberfeld vor den Toren der Römerstadt Nida, dem römischen Vorläufer von Frankfurt. Die über 120 Körpergräbern gehören in diese Zeit hinein und enthalten zum Teil reiche Beigaben, die zeigen, dass die Leute damals rechts des Rheins noch sehr gut an den Handel im Rheinland angebunden waren.
Auf der anderen Seite die Handschrift. Das ist eher bestätigend, weil diese nicht so scharf zu datieren ist. Die Handschrift ist eine Mischung aus der älteren, Majuskeln cursive, bei der man die Buchstaben einzeln geschrieben hat, und der jüngeren, Minuskeln cursive, bei der man die Buchstaben, ohne abzusetzen durchschreibt, wie das bei unserer heutigen Handschrift der Fall ist. Diese Mischung ist ins dritte Jahrhundert zu datieren.
DOMRADIO.DE: Dass sich jemand mit einer Fälschung wichtig machen möchte, können Sie absolut ausschließen? Es ist wirklich so alt?
Scholz: Das können wir absolut ausschließen. Denn wie gesagt, das ist ein authentischer Grabungsbefund. Das ist entsprechend dokumentiert und das Objekt ist noch so drin, wie es in seiner Kapsel verschlossen ist. Es ist virtuell aufgerollt. Das ist eine weitere Sensation.
Diese Methodologie, diese Technik, ist am Leibniz-Zentrum für Archäologie in Mainz dank neuer Gerätschaft entwickelt worden. So konnte man das lesbar machen, ohne es anzufassen, zu berühren oder gar zerstören zu müssen.
DOMRADIO.DE: Sie haben schon über die Inschrift gesprochen. Diese umfasst 18 Zeilen und Sie waren mit der Übersetzung betraut. Wie lange haben Sie dafür gebraucht?
Scholz: Das ist schwer zu eruieren, aber ich kenne dieses Bilddokument. Das ist ein Schicht-Dokument, eine dreidimensionale Tomographieaufnahmen. Seit einem halben Jahr habe ich mich immer wieder darangesetzt. Aber nicht nur ich.
Ich muss ganz deutlich sagen, die Entzifferung ist eine Teamarbeit. Angefangen mit der virtuellen Aufrollung, sonst wüssten wir bis heute gar nichts darüber. Dann ist das nicht so, dass man das vor sich hat und runterliest. Es gibt immer Punkte, die man sofort erkennt. Andere muss man sich Stück für Stück erringen, auch in Diskussionen mit Kollegen oder durch die Überprüfung der eigenen Lesung durch Kollegen.
Da kommt es schon vor, dass man sich irrt und sagen muss, dass man da nochmal neu ansetzen muss, weil ein Kollege stutzt und das nicht nachvollziehen kann. Das ist ein richtiges Ringen. Ich sage deutlich dazu, dass das vielleicht in manchen einzelnen Details noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist.
Zwar wird sich im Großen und Ganzen nicht mehr viel ändern. Aber es gibt ein paar Fehlstellen am linken Rand, die man unterschiedlich ergänzen kann. Ich denke, die Diskussion hat begonnen und die wird uns noch eine ganze Weile verfolgen und das Ganze wahrscheinlich noch dichter und noch runder machen.
DOMRADIO.DE: Muss jetzt die Geschichte des Christentums im Frankfurter Raum umgeschrieben werden, so wie es der Oberbürgermeister gesagt hat?
Scholz: Na ja, die Darstellung des frühen Christentums wird ohne dieses Objekt nicht mehr umhinkommen. Man wird es künftig berücksichtigen müssen. Anders als im Osten des Römischen Reiches, wo sich das Christentum relativ schnell im Laufe des ersten und zweiten Jahrhunderts verbreitet hat, haben wir nördlich der Alpen erst in konstantinischer Zeit wirklich verlässliche Zeugnisse, also mit der Tolerierung im Jahr 313.
Das ist Zufall oder nicht, ebenfalls das Datum des ältesten Bischofs in Köln. Natürlich hat der älteste Bischof in Köln nicht allein angefangen. Wahrscheinlich konnte der auf existierende Strukturen aufbauen. Soweit würde es nicht überraschen, wenn wir ein Zeugnis aus dem zweiten Jahrhundert am Rhein hätten. Die Leute hatten 100 bis 200 Jahre Zeit gehabt, sich zu informieren.
Aber es fehlte eben der konkrete Nachweis und damit betreten wir jetzt Neuland, gerade wie dieser Nachweis erfolgt ist. Diese Art der Quelle, ein Amulett-Schutzzauber rein christlicher Natur: Normalerweise ist diese Quellengattung, dieser Schutzzauber auf Edelmetallfolien, sehr stark von Synkretismen geprägt.
Da hat man heidnische Gottheiten angerufen, da sind jüdische Elemente drin. In anderen Texten wird Jahwe oder Severot genannt und da kann auch Jesus Christus auftauchen. Aber dass ein rein christlicher Text mit liturgischen Formulierungen ist, die wir eigentlich erst aus späterer Zeit kennen, das ist schon etwas Neues und das wird vor allem die Theologie beschäftigen.
Das Interview führte Tobias Fricke.