Was ist die richtige Reaktion der Mitarbeiter auf die Gewalt? Der Mann wurde richtig laut. Er schimpfte. Empörte sich, dass er jetzt gehen sollte. "Es ging um unsere Regelung, dass sich männliche Besucher am Vor- und am Nachmittag jeweils nur für eine Stunde bei uns aufhalten dürfen, damit für alle Platz ist", sagt Michael Lindner-Jung, der die Würzburger Bahnhofsmission leitet. Dass Besucher der ökumenischen Einrichtung aggressiv, ausfällig und manchmal sogar übergriffig werden, kommt inzwischen häufig vor, sagt er: "Das ist bundesweit ein großes Thema."
Große Perspektivlosigkeit
Der Darmstädter Kriminalpsychologe Jens Hoffmann bestätigt: "Auch andere soziale Einrichtungen berichten von einer Zunahme der Aggressivität." Sie könne dem Gefühl entspringen, ausgeliefert zu sein und über das eigene Leben kaum noch selbst bestimmen zu können, sagte der Leiter des Darmstädter Instituts für Psychologie und Bedrohungsmanagement dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Wie aus Untersuchungen der Bahnhofsmissionen hervorgeht, sind deren Besucher häufig in sehr schwierigen Lebenssituationen. Ein großer Teil ist erwerbslos. Über 75 Prozent der Nutzer von Bahnhofsmissionen in größeren Städten beziehen ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. Viele haben nicht einmal 500 Euro im Monat zur Verfügung. Rund ein Drittel hat keinen festen Wohnsitz. Insgesamt, sagt Hoffmann, ist die Perspektivlosigkeit groß.
Phänomen der Gewalt
Anlässlich des "Tags der Bahnhofsmission" am 27. April machen Lindner-Jung und seine Kollegen auf das Phänomen der Gewalt aufmerksam. Wobei die Meinungen darüber auseinandergehen, inwieweit es in den letzten Jahren zu einem Anstieg aggressiver Vorfälle kam.
"Ich kann nicht sagen, dass die Zahl der gewalttätigen Akte gestiegen wäre", sagt Wilhelm Nadolny, der die Berliner Bahnhofsmission Zoo leitet. Bedrückend ist für ihn vielmehr, dass es das Team der Bahnhofsmission "permanent" mit Gewalt zu tun hat.
Allerdings komme es eher selten zu Gewalt gegenüber den Mitarbeitern. Sachbeschädigungen sowie Gewalt unter den Besuchern hingegen werden häufig registriert. "Wenn sich viele verschiedene Menschen in Notlagen um begrenzte Güter anstellen, treten natürlich Konflikte auf", erklärt Nadolny.
Wie auf die Aggressivität der Besucher reagieren? Diese Frage treibt viele Bahnhofsmissionen um. Mitunter wird mit Hausverboten gearbeitet. Solche Methoden stellt Michael Lindner-Jung von der Würzburger Bahnhofsmission infrage. "Unser Selbstverständnis beruht darauf, dass wir alle Menschen, die Hilfe benötigen, willkommen heißen", sagt der katholische Theologe und Sozialarbeiter, dessen Einrichtung 2018 mehr als 45.000 Mal kontaktiert wurde.
300 Besucher in München täglich
Kein Tag in der Bahnhofsmission ist wie der andere, erklärt Barbara Thoma, Leiterin der Evangelischen Bahnhofsmission in München, die von täglich rund 300 Menschen aufgesucht wird. Es gibt sehr ruhige Tage, wo alles friedlich bleibt. Dann wieder komme es an einem Tag mehrfach zu verbalen Attacken: "Die reichen von Entgleisungen, rassistischen Äußerungen, Streitereien untereinander, Beleidigungen anderer Besucher, Beleidigungen von Mitarbeitern bis hin zu Drohungen."
In den vergangenen zehn Jahren stiegen laut Thoma in der Münchner Bahnhofsmission die Besucherzahlen. Aus diesem Grund nahmen auch Aggressionslevel und Unsicherheitsgefühl des 160-köpfigen Teams aus Haupt- und Ehrenamtlichen zu. Weil sich die Situation ständig verschärfte, wurde 2016 ein Security-Unternehmen engagiert: "Täglich ist ein Mitarbeiter dieser Firma von 7 bis 21.30 Uhr vor Ort." Kommt es zu brenzligen Situationen oder muss ein Hausverbot erteilt werden, kann der Sicherheitsspezialist hinzugezogen werden.
Angelika Leitl-Weber von der Bahnhofsmission in Passau beobachtet, dass auch deshalb Konflikte zunehmen, weil vermehrt psychisch erkrankte Menschen die Bahnhofsmissionen aufsuchen. "Früher besuchten uns vorwiegend Männer, die sich zwischen Hartz IV und Rente befanden und die unsere Bahnhofsmission als 'Wartebereich ihres Lebens' nutzten", erklärt die Leiterin der Caritas-Einrichtung. Inzwischen kämen immer mehr jüngere, drogenabhängige Besucher.