DOMRADIO.DE: "Weihnachten - ein Fest packt aus", so heißt Ihr Buch. Sind Sie selbst ein großer Weihnachtsfan oder warum wollten Sie unbedingt Fakten und Mythen rund um Weihnachten auspacken?
Gideon Böss (Autor): Zum einen bin immer ein großer Weihnachtsfan gewesen. Aber zum anderen gab es für das Buch einen überraschenden Anlass, weil ich im August letzten Jahres bei fast 40 Grad durch Rüdesheim am Rhein gelaufen bin und da in einem Weihnachtsladen gelandet bin, der das ganze Jahr über offen hat.
In dieser Weihnachtssituation, obwohl draußen 40 Grad waren, dachte ich, dass das wirklich ein tolles Fest ist. Man verbindet damit so viele schöne Gefühle. Ich hatte darauf aufbauend angefangen drüber nachzudenken, was an Weihnachten so faszinierend und schön ist. Das war der Aufhänger, um an diesem Buch zu arbeiten.
DOMRADIO.DE: Herausgekommen ist eine Art augenzwinkernde Kulturgeschichte von Weihnachten aus der Ich-Perspektive. Da beklagt sich Weihnachten darüber, dass es lange Zeit gegenüber Ostern das Nachsehen hatte. Wie kam das?
Böss: Weihnachten war am Anfang vollkommen irrelevant. Die Christen hatten alle Hände voll zu tun, sich vom Judentum zu distanzieren, aus dem sie sich ja entwickelt hatten. Das heißt, alles hat sich um Ostern gedreht, das eng mit dem jüdischen Pessachfest verbunden war.
Diese theologische Ablösung von Pessach hat das Christentum jahrhundertelang so intensiv beschäftigt, dass man sich um das theologisch eher irrelevante Weihnachten gar keine Gedanken gemacht hat. Das kam erst, als man sich so weit von der jüdischen Religion emanzipiert hatte, dass man sich darüber Gedanken gemacht hat, was die Geburt Jesu für das Christentum bedeutet.
DOMRADIO.DE: Deutschland hatte zu Weihnachten immer eine ebenso besondere Beziehung. Inwiefern?
Böss: Vor allem durch die Reformation. Die Protestanten haben einen anderen Blick auf Weihnachten. Luther hat sofort die Heiligenverehrung als Götzendienst verboten. In der Schweizer Version der Reformation ging das noch weiter. Da hat man im Grunde alles verboten, was nicht in der Bibel eins zu eins nachweisbar ist. Das Weihnachtsfest hatte es schwer.
Gleichzeitig haben die in Deutschland Protestanten verstanden, dass man den Menschen nicht nur Dinge wegnehmen kann. Nikolaus wurde zum Beispiel von den Protestanten entfernt.
Aber sie haben sich das Christkind ausgedacht, damit die Menschen weiterhin einen positiven Bezug zum Weihnachtsfest haben, sodass nicht nur das Gefühl entsteht, dass man ihnen alles wegnimmt.
Aus dieser Situation, dass wir hier mit Protestanten und Katholiken diese ungewöhnliche Mischung hatten, hat sich eine Weihnachtseuphorie innerhalb von Deutschland erstaunlich stark entwickelt. Die Protestanten haben im 19. Jahrhundert einen Großteil unserer modernen Weihnachten mit erfunden.
Durch die Weihnachtsmärkte, von denen es nirgendwo auf der Welt so viele wie in Deutschland gibt, haben wir so eine Prägung, dass dieses Land und Weihnachten in einem besonders engen Verhältnis zueinander stehen.
DOMRADIO.DE: Diese Art von interkonfessionellem Kulturkampf rund ums Weihnachtsfest hat sich auch im Duell Krippe gegen Tannenbaum manifestiert. Was war da los und wer hat gewonnen?
Böss: Am Ende ist es ein faires Unentschieden geworden. Die Katholiken haben nach der Reformation die Krippe für sich beansprucht, das davor ein klassisches christliches Symbol war, das zu einem katholischen Symbol umgedeutet wurde. Denn man hat versucht, sich von dieser neuen christlichen Gruppe der Protestanten abzusetzen.
Dadurch war es jahrhundertelang so, dass dort, wo eine Krippe stand, klar war, dass das hier Katholiken sind. Es gab keine protestantische Kirche, in der eine Krippe gestanden hätte. Im Dreißigjährigen Krieg wurden sogar Soldaten dazu abberufen, Krippen zu schnitzen, damit sie in die katholischen Länder gebracht werden. Von daher war das eine gewisse Zeit lang Teil der psychologischen Kriegsführung, dass man gesagt hat, dass die Krippe für die katholische Kirche steht.
Das hat man lange Zeit so durchgezogen. Die Protestanten haben mit dem Weihnachtsbaum eher unbeabsichtigt ein eigenes Symbol entwickelt. Die Katholiken haben versucht, diesen Weihnachtsbaum schlecht zu machen, indem man gesagt hat, dass das eine Tannenbaumreligion sei. Das ist eine Naturreligion und nicht mehr das klassische, christliche Denken.
Nach und nach hat sich das allerdings in den protestantischen Kreisen so etabliert. Der Weihnachtsbaum wurde ein wichtiger Teil des Weihnachtsfestes in der Familie und war zunehmend das Symbol, das für den Protestantismus stand, genauso wie umgekehrt es die Krippe für die Katholiken war.
So wäre kein Katholik auf die Idee gekommen, sich einen Weihnachtsbaum zuzulegen. Das hat sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts und endgültig im 20. Jahrhundert aufgelöst. Heute kauft sich jeder eine Krippe oder einen Baum oder beides, wie er will.
Als Papst Benedikt XVI. gestorben ist, hat man im Hintergrund des Raums, in dem er aufgebahrt war, einen Weihnachtsbaum gesehen. Das heißt, dieser Kulturkrieg hat sich in Wohlgefallen aufgelöst.
DOMRADIO.DE: Den großen Durchbruch zum allerseits beliebten Familienfest hat das 19. Jahrhundert gebracht. Was war da alles los?
Böss: Im 19. Jahrhundert hat sich Weihnachten zunehmend aus der Kirche in die Familie verlagert - vor allem wieder von den Protestanten ausgehend, für die das in der Kirche nie so bedeutsam war, wie für die Katholiken.
Dadurch, dass es mehr in der Familie stattgefunden hat, hat man versucht, sich diesen Ort und die Zeit, die man an Weihnachten zu Hause verbringt, schön zu gestalten. Daher kamen verschiedene neue Bräuche auf.
Der Adventskalender und der Adventskranz sind alles Dinge, die im 19. Jahrhundert entstanden sind. Davor hätten sie keinen Sinn gemacht, weil es kein Familienfest war. Gleichzeitig hat die Familie im 19. Jahrhundert an Bedeutung gewonnen, da das Bürgertum einen Aufstieg erlebt hat.
Innerhalb dieser neuen Dynamik gab es viele neue Gedichte, neue Geschichten, neue Lieder. Ein Großteil dessen, was wir heute mit Weihnachten verbinden, ist aus dem 19. Jahrhundert.
DOMRADIO.DE: Dann gab es Zeiten, in denen totalitäre Regime sich an Weihnachten die Zähne ausgebissen haben: die Nazis genauso wie die Machthaber der DDR. Warum hat es am Ende keiner geschafft, den Leuten ihr Weihnachten wegzunehmen?
Böss: Ich glaube, weil das ein Grundmissverständnis ist. Weihnachten kann man nicht von oben herab autoritär diktieren. Es ist ein empathisches Fest, das gleichzeitig sehr subversiv ist. Man merkt das daran, dass es im Grunde jeder mehr oder weniger so auslegt und feiert, wie er will.
Die Idee der Nazis, das zu einem arischen Fest zu machen, konnte von Anfang an nicht funktionieren. Es war so gewesen, dass Jesus als jüdisches Kind, das zu Gott wird, für die Nazis besonders problematisch war. Das entsprach dem Gegenteil dessen, was die Naziideologie vorsieht. Man hat versucht, aus Jesus einen Jungen zu machen, der im Schwarzwald geboren wurde.
Das sind alles Versuche gewesen, die nicht ansatzweise die Weihnachtsbegeisterung der Deutschen erreichen konnte. Es war kein Ersatz, sondern eine komplett andere Ideologie, die den Charme, das Freundliche und das Empathische des Weihnachtsfestes nicht mehr wiedergegeben hat.
DOMRADIO.DE: Sie zeigen, wie Weihnachten vom religiösen Fest zum Familien-, Geschenke- und Konsumfest mutiert. Das beklagen viele im Umfeld der Kirche. Warum lassen Sie das Weihnachtsfest nicht schlecht finden?
Böss: Ich finde, das ist das Tolle an Weihnachten. Es kann jeder feiern, wie er will. Man kann das als Christ in großer Demut begehen und sich auf die Ursprünge konzentrieren. Das nimmt einem niemand weg.
Gleichzeitig freut sich eine Familie, die nicht einmal in die Kirche geht, seit Wochen auf die Bescherung und die schöne Zeit, die man gemeinsam unter dem Baum hat. Ich finde exakt das als das Tolle. Dieses zumindest ursprünglich religiöse Fest ist das einzige, das all das miteinander verbinden kann.
Das sehe ich nicht als Nachteil, sondern als eine der großen Stärken. Dieses Fest kann so vieles miteinander zusammenbringen, was in anderen Kontexten getrennt bleiben würde.
Das Interview führte Hilde Regeniter.