Autor Politi zieht Bilanz des bisherigen Franziskus-Pontifikats

Franziskus und die "Schildkröten-Strategie"

Reformern ist er zu langsam, Traditionalisten geht er zu weit. Wie hat das Pontifikat von Papst Franziskus die katholische Kirche geprägt? Der Vatikanexperte Marco Politi zieht in seinem Buch "Der Unvollendete" eine erste Bilanz.

Autor/in:
Ina Rottscheidt
Papst Franziskus / © Stefano dal Pozzolo/Romano Siciliani (KNA)

DOMRADIO.DE: Das Papsttum ist eine absolute Monarchie, der Papst galt stets als allmächtig und unfehlbar. Und jetzt verweigern kirchliche Akteure und ganze Bischofskonferenzen Papst Franziskus den Gehorsam, von Einzelnen wurde ihm sogar in der Vergangenheit "Häresie" vorgeworfen. Gilt die Vorstellung von einem Pontifex, der wie ein universaler Herrscher bestimmt, wo es in der Kirche lang geht, nicht mehr?

Vatikanjournalist Marco Politi (KNA)

Marco Politi (Italienischer Vatikanist und Buchautor): Das ist die alte Idee von der Allmacht des Papstes, aber im Laufe des aktuellen Pontifikates musste man feststellen, dass die Kurie nicht mehr die Macht hat, die sie einmal hatte und der Papst sich um Mehrheiten bemühen muss, wie in einem parlamentarischen System. Das sagt keiner offen, aber es ist so. Das konnte man zum Beispiel beim Synodalen Weg in Deutschland beobachten. Der Papst wollte den Prozess stoppen, weil er eine "Protestantisierung" der katholischen Kirche fürchtete. Darum hat er die deutschen Bischöfe im Jahr 2022 nach Rom gerufen und ihnen die Leviten gelesen. Aber die Deutschen haben weitergemacht. 

Bei dem Dekret "Fiduccia supplicans" für die Segnung homosexueller Paare war es noch augenscheinlicher. Da brach eine richtige Revolte los und Bischöfe in der ganzen Welt protestierten und der Vorsitzende der afrikanischen Bischofskonferenzen, Kardinal Fridolin Ambongo Besungu, hat ganz offiziell "Nein" im Namen der afrikanischen Bischöfe gesagt, obwohl er eigentlich dem Papst treu verbunden ist. Er hat mit soziokulturellen Gründen argumentiert, und der Papst war einverstanden. Das ist wirklich neu. 

Ich erinnere mich noch an Johannes Paul II., der mit einem Dokument der amerikanischen Bischöfe zu den US-Waffensystemen unter Präsident Reagan nicht einverstanden war. Er hat es untersagt, und die Bischöfe haben gehorcht. Das ist jetzt nicht mehr so. Die nationalen Bischofskonferenzen haben ein neues Selbstbewusstsein, das kann man immer wieder beobachten. Zugleich ist die katholische Kirche zersplitterter denn je, das geht über die übliche Polarisierung zwischen konservativ und reformorientiert hinaus, und der Papst muss diese Kirche zusammenhalten. 

Marco Politi

"Das war wie eine Kampfansage an den Reformkurs von Franziskus. Er fühlte sich an die Wand gedrückt und am Ende traf er keine Entscheidung."

DOMRADIO.DE: Ist denn die Einheit bei einer Kirche mit solchen Fliehkräften überhaupt noch zusammenzuhalten? Jede Reform scheint der Versuch, rechts und links gleichzeitig abzubiegen. Das muss doch zum Scheitern verurteilt sein? 

Politi: Das ist ein unglaublicher Spagat. Das konnte man auch bei der Amazonas-Synode 2019 beobachten, die dem Papst so wichtig war. Er hatte selbst gewollt, dass man über die "viri probati" diskutiert – also die Priesterweihe für in den Gemeinden angesehene, verheiratete Männer, die bereits Diakone sind. Er hatte als Generalrelator Kardinal Claudio Hummes ernannt, der seiner Meinung war. Die Amazonas-Bischöfe haben sich damals ebenfalls mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit für diese "viri probati" ausgesprochen. Es lief also alles darauf hinaus. Aber dann kam die Revolte vom emeritierten Papst Benedikt XVI. und Kardinal Sarah mit dem Buch "Aus der Tiefe des Herzens", das die unauflösliche Verbindung zwischen Priestertum und Zölibat betont. Das war wie eine Kampfansage an den Reformkurs von Franziskus. Er fühlte sich an die Wand gedrückt und am Ende traf er keine Entscheidung. Wegen dieser unterschiedlichen Kräfte in der Kirche ist in seinem Pontifikat so vieles unvollendet geblieben. 

Charlotte Kreuter-Kirchhof / © Max von Lachner (SW)

Dennoch bewegt er Dinge, ich nenne es die "Schildkröten-Strategie": Ganz langsam vorangehen und schauen, wo es Wege gibt. Zum Beispiel hat er eingeführt, dass es in Rom jetzt Frauen in leitenden Positionen der Kurie gibt, wo Jahrhunderte lang Männer in Soutane das Sagen hatten. Die Juristin Charlotte Kreuter-Kirchhof ist jetzt Vizekoordinatorin des Wirtschaftsrates. Die Ordensfrau Raffaella Petrini machte der Papst zur Generalsekretärin des Gouvernatorates der Vatikanstadt und erstmals bekamen Frauen bei der Weltsynode ein Stimmrecht. Für viele Frauen in der Kirche reicht das noch lange nicht, aber wenn man bedenkt, dass es 1700 Jahre lang keine Frauenbeteiligung und kein Stimmrecht gab, ist das schon revolutionär, denn es wird sich ausbreiten, dahinter kann man nicht mehr zurück. 

Marco Politi

"Franziskus ist eine ambivalente Persönlichkeit. Er setzt sich für Demokratie und Synodalität ein und agiert gleichzeitig autoritär."

DOMRADIO.DE: Sie zeichnen in (Link ist extern)Ihrem Buch "Der Unvollendete" das Bild eines impulsgesteuerten, manchmal chaotisch agierenden Menschen, der in seinem Umfeld für große Verunsicherung hinsichtlich seines Kurses sorgt. Sie erzählen beispielsweise von einer Szene, wo der Papst, nachdem er immer wieder Partei für Homosexuelle ergriffen hat, im kleinen Kreis von "Schwuchteln" redet. Das hat für große Empörung und Verwirrung gesorgt, weil sich die Menschen fragen: Was ist denn eigentlich sein Kurs? Ist Franziskus eine geeignete Führungspersönlichkeit? 

Politi: Man kann die Dinge nicht nur schwarz und weiß sehen. Franziskus ist eine ambivalente Persönlichkeit. Er setzt sich für Demokratie und Synodalität ein und agiert gleichzeitig autoritär.

Der Papst öffnet Wege und Türen, aber es braucht auch jemanden, der sich um das kanonische Recht kümmert und den Katechismus erneuert. Er hat auch nicht viel für Organisation übrig, aber es braucht so etwas wie eine Architektur des Kirchenkurses, aber er kümmert sich nicht. Johannes Paul II. hatte auch keine besondere Beziehung zu der römischen Kurie, aber hatte Kardinal Angelo Sodano, seine rechte Hand sozusagen, er war der Manager der Kurie. 

2014: Kardinaldekan Angelo Sodano und Papst Franziskus / © Paul Haring (KNA)

Franziskus ist im Großen und Ganzen ein Alleingänger: Er delegiert nicht gerne und es kam schon vor, dass der Staatssekretär nicht wusste, was er sagen oder tun würde. Er wechselt auch immer seine Privatsekretäre, weil er nicht will, dass jemand zu viel Macht bekommt. 

DOMRADIO.DE: Ihr Buch trägt den Titel "Der Unvollendete", immer wieder schreiben Sie vom "Herbst des Pontifikats". Welche Bilanz ziehen Sie denn? 

Marco Politi

"Franziskus hat beim Thema Missbrauch aufgeräumt und sogar zwei Kardinäle aus dem Amt entfernt."

Politi: Ich halte Papst Franziskus - trotzdem allem - für einen großen Erneuerer. Der ehemalige Mailänder Kardinal Martini hat einmal gesagt: Auf der Kirche liegen 200 Jahre Staub. Und Franziskus hat diesen Staub weggefegt und Türen geöffnet: Er hat die Korruption in der Vatikanbank beendet, heute kann man keine Geldwäsche mehr betreiben oder Mafiagelder parken. Er hat mit dieser Jahrhunderte alten Sexbesessenheit der Kirche aufgeräumt. Man diskutiert heute nicht mehr über voreheliche Beziehungen, es gibt die Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene. Franziskus nannte die Homosexuellen "Kinder Gottes", über die er nicht zu richten habe und er hat dafür gesorgt, dass sich die Kirche queeren Menschen öffnet. Das ist für die katholische Kirche äußerst revolutionär und dahinter kann auch sein Nachfolger nicht mehr zurück. 

Franziskus hat beim Thema Missbrauch aufgeräumt und sogar zwei Kardinäle aus dem Amt entfernt: Kardinal Theodore McCarrick wegen Missbrauchs Minderjähriger und Kardinal Edwin O’Brian wegen Beziehungen zu Seminaristen. Der Papst hat Bischöfe entfernt, weil sie vertuschten, er hat strengere Gesetze eingeführt und sich dafür eingesetzt, dass diese Fälle auch vor weltlichen Gerichten landen. 

Papst Franziskus und Gustavo Zanchetta / © Vatican Media (KNA)

Es gibt natürlich auch widersprüchliche Fälle: Zum Beispiel Bischof Zanchetta, von dem es heißt, er sei ein Freund des Papstes. Er wurde in seiner Heimat Argentinien wegen sexuellen Missbrauchs zweier Seminaristen zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Aber in Rom hat man ihm nicht den Prozess gemacht. Oder der Fall des slowenischen Paters und Mosaikkünstlers Marko Rupnik, dem Missbrauch vorgeworfen wird. Aber seine Exkommunikation wurde wieder aufgehoben und diese Entscheidung kann nur der Papst getroffen haben. 

Marco Politi

"Wir blicken auf zehn Jahre Bürgerkrieg zwischen Konservativen und Reformern in der Kirche zurück und jetzt kommt noch eine Zersplitterung in geografische und kulturelle Regionen hinzu."

DOMRADIO.DE: Aber Papst Franziskus hinterlässt auch eine Kirche, die zerrissener denn je ist. Alles, was er gemacht hat, ist den einen zu viel und den anderen zu wenig. Ist das nicht ein schweres Erbe für seinen Nachfolger? 

Politi: Ganz bestimmt. Ich nenne ihn deshalb einen "Übergangspapst". Die tridentinische Konstruktion einer absolutistischen Struktur funktioniert nicht mehr. Wir blicken auf zehn Jahre Bürgerkrieg zwischen Konservativen und Reformern in der Kirche zurück und jetzt kommt noch eine Zersplitterung in geografische und kulturelle Regionen hinzu. 

Hinzu kommt der Einfluss der sozialen Medien, den es so vor 20 Jahren noch nicht gab. Heute kann sich jeder Pfarrer, jede kleine aggressive Gruppe mit anderen weltweit vernetzen und Gehör verschaffen. Selbst meine Nachbarin in einem kleinen mittelalterlichen Städtchen in Umbrien hatte von den Hetzreden von Erzbischof Viganò gegen den Papst mitbekommen. Das wäre früher nicht denkbar gewesen. 

DOMRADIO.DE: Lässt sich diese zersplitterte Kirche noch mal einen? 

Politi: Ich bin kein Prophet. Ratzinger hat einmal gesagt, dass es nicht der Heilige Geist ist, der im Konklave den neuen Papst auswählt, er passt nur auf, dass nicht zu viele Dummheiten passieren. Die Suche nach einem Nachfolger läuft noch, denn man weiß nicht, wie lange dieses Pontifikat noch dauert. Ende des Jahres wird Franziskus 89, in dem Alter hat auch Adenauer mit der Politik aufgehört. 

Gesucht wird eine Persönlichkeit, die die Kirche wieder einen und neu organisieren kann, einen Diplomaten. Darum wird der nächste Papst vermutlich kein konservativer Traditionalist, denn das Ratzinger-Experiment hat nicht funktioniert, obwohl er ein guter Theologe war. Aber man kann die Uhren nicht zurückdrehen. Aber viele wollen auch keinen zweiten Franziskus, darum sucht man eine Persönlichkeit in der Mitte, die gleichzeitig Diplomat und Architekt ist und die vor allem Charisma haben, denn das ist heute wichtiger denn je. 

DOMRADIO.DE: Am Ende wird der neue Papst im Konklave von den Kardinälen gewählt. Wie sind denn da die aktuellen Mehrheitsverhältnisse? 

Kardinäle in der Messe vor dem Konklave 2013 / © Harald Oppitz (KNA)

Politi: Ich habe den Eindruck, dass 30 Prozent konservativ und 20-25 Prozent reformorientiert sind. Und es gibt diese breite Mitte, die ziemlich undurchsichtig ist. Deswegen kann man jetzt nur schwer Prognosen abgeben. Die Entscheidung fällt im letzten Moment hinter den verschlossenen Türen des Konklaves, wenn die Kardinäle gezwungen sind, Kompromisse zu machen. 

DOMRADIO.DE: Sie beschreiben in Ihrem Buch auch ausführlich die Situation nach Franziskus‘ Amtsantritt, die schwierige Situation mit einem Papst und einem emeritierten Papst, der sich – anders als angekündigt – durchaus häufiger zum Vorgehen seines Nachfolgers zu Wort meldete. Ist vor diesem Hintergrund ein Rücktritt von Papst Franziskus nicht sehr unwahrscheinlich, auch wenn er zunehmend gebrechlicher wird? 

Politi: Franziskus hat immer anerkannt, dass Ratzinger mit seinem Rücktritt einen neuen Weg eröffnet hat. Derzeit ist er aufgrund seiner gesundheitlichen Situation fast wie ein Gefangener im Vatikan: Er trifft praktisch keine Menschen, er kann nicht reden oder an Versammlungen teilnehmen. Und wenn sich das in die Länge ziehen sollte oder wenn er jetzt regelmäßig lange Krankenhausaufenthalte hat, kann ich mir schon vorstellen, dass er dann über den Rücktritt nachdenkt. 

Er hat immerhin schon gesetzlich dafür gesorgt, dass es künftig keinen emeritierten Papst mehr geben würde, sondern nur einen emeritierten Bischof von Rom. Eines der letzte Male, das er das Thema Rücktritt angesprochen hat, sagte er: "Der Herr wird mir basta sagen!"

Papst Franziskus umarmt ein Mädchen bei der Andacht zum Jahresabschluss / © Cristian Gennari (KNA)
Papst Franziskus umarmt ein Mädchen bei der Andacht zum Jahresabschluss / © Cristian Gennari ( (Link ist extern)KNA )

DOMRADIO.DE: Welches geistliche Vermächtnis hinterlässt Papst Franziskus? 

Politi: Die Menschlichkeit. Er hat ganz bewusst auch die Figur des Papstes verändert, weil er kein kaiserlicher Monarch sein wollte. Er hat sich selbst immer als Mensch gezeigt und er ist überzeugt von der menschlichen Schwäche. Seine Botschaft der letzten Jahre war, dass es nicht so wichtig ist, dass man sonntags in die Messe geht, sondern dass man sich um den Nächsten kümmert, auch um die, die uns fern sind. 

In dem Dokument, das Franziskus 2019 zusammen mit dem Imam von der Al-Azar Universität unterschrieben hat, steht, dass es ein Plan Gottes ist, dass es unterschiedliche Religionen gibt und dass jeder den anderen als einen Bruder behandeln sollte. Diese Botschaft hat viele erreicht. Zwar gehen jetzt nicht mehr Menschen in die Kirche, aber sie spricht viele an, auch Nicht-Christen, Atheisten oder Agnostiker. Papst Franziskus beeindruckt viele Menschen mit seiner Botschaft der Menschlichkeit. 

Das Interview führte Ina Rottscheidt.

Information der Redaktion: Marco Politi: (Link ist extern)"Der Unvollendete. Franziskus' Erbe und der Kampf um seine Nachfolge." Herder-Verlag, 2025 

Quelle:
DR

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