Kirchenhistoriker analysiert Pontifikate seit dem Jahr 1800

Die Neuerfindung des Papsttums

Humanitäre Aktionen, Reisen, Medien: Der Theologe Jörg Ernesti erklärt in seinem neuen Buch, wie sich das Papsttum über gut 200 Jahre gewandelt hat – und warum das Interesse an Papst und Vatikan seit der Jahrtausendwende zunimmt.

Autor/in:
Hilde Regeniter
Der weiße Pileolus ist die Kopfbedeckung der Päpste / © Alessandra Tarantino (dpa)
Der weiße Pileolus ist die Kopfbedeckung der Päpste / © Alessandra Tarantino ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie haben bereits mehrere Papstbiografien geschrieben und zuletzt ein Buch über die vatikanische Außenpolitik seit 1870. Warum jetzt dieser monumentale Überblick?

Jörg Ernesti / © Christopher Beschnitt (KNA)
Jörg Ernesti / © Christopher Beschnitt ( KNA )

Prof. Jörg Ernesti (Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Universität Augsburg): Das Attribut monumental ist sehr freundlich. Aber tatsächlich kann man bei 576 Buchseiten nicht mehr von einem kleinen Taschenbuch sprechen. Ich beschäftige mich seit gut 15 Jahren schwerpunktmäßig mit der neuzeitlichen Geschichte der Päpste. Da lag es auch nach den Biografien, die ich bisher vorgelegt habe, nahe, irgendwann einmal eine erste Summe zu präsentieren.

Außerdem ist die bis dahin letzte Darstellung der Päpste des 19. und 20. Jahrhunderts 25 Jahre alt und kann als weitgehend überholt gelten. 

DOMRADIO.DE: Wie lässt sich der Zeitraum, den Sie mit Fokus auf die jeweiligen Päpste in den Blick nehmen, grob zusammenfassen? Was waren die großen gesellschaftspolitischen Entwicklungen, denen sich die Päpste stellen mussten? 

Ernesti: Etwas salopp könnten wir von einer Neuerfindung des Papsttums in dieser Epoche sprechen. Viele Elemente sind zu diesem Amt hinzugekommen, die vor 1800 gar keine oder nur eine geringe Rolle gespielt haben. Heute reisen die Päpste etwa um die Welt und werten damit die Ortskirchen auf. Die Reisetätigkeit gehört längst integral zur Amtsausführung der Päpste hinzu. In den letzten 150 Jahren haben die Päpste immer wieder als Vermittler in internationalen Konflikten agiert. Auch das ist etwas Neues.

Humanitäre Aktivitäten spielen heute für den Vatikan eine wichtige Rolle, etwa im Ukrainekrieg, wo der Heilige Stuhl den Austausch von Gefangenen oder die Rückführung von entführten Kindern vermittelt hat. 

DOMRADIO.DE: Wie schwer haben sich die Päpste beispielsweise mit der Entwicklung der Gesellschaften hin zu Demokratien getan? 

Jörg Ernesti

"Die Päpste gehören heute zu den bekanntesten, einflussreichsten und bestinformierten Persönlichkeiten der Welt."

Ernesti: Der Grundansatz der Französischen Revolution von 1789 war ja, dass alle Macht vom Volk ausgeht. Die Volkssouveränität ist damals proklamiert worden. Die Päpste haben bis ins 20. Jahrhundert daran festgehalten, dass alle Macht von Gott ausgeht und dass Menschen diese Macht nur stellvertretend ausüben und verwalten können.

Das ist letztlich mit einer Demokratie schwer zu vereinbaren. Die Kirche und die Päpste an der Spitze der Kirche haben in dieser Frage einen langen Lernprozess durchgemacht. 

DOMRADIO.DE: Wie wiederum hat sich das gesellschaftliche Ansehen der Päpste angesichts der fortschreitenden Säkularisierung entwickelt? 

Ernesti: Im Jahr 1800 gab es ungefähr 100 Millionen Katholiken auf der Welt; heute sind es 14 Mal so viele, also 1,4 Milliarden. Die katholische Kirche ist damit die größte einzelne Religionsgemeinschaft der Welt. Das spiegelt sich natürlich auch in der Rolle des Papstes wider.

Johannes XXIII. und Johannes Paul II. etwa sind vom Time Magazine zum "Man of the Year" ernannt worden, Franziskus war "Person of the Year". Ich denke, ganz gleich, wie man zum Papsttum und zur katholischen Kirche steht: Die Päpste gehören heute zu den bekanntesten, einflussreichsten und bestinformierten Persönlichkeiten der Welt.

Oder - wie das ein Politikwissenschaftler formuliert hat: Die Päpste haben wenig Macht, aber sie haben viel Einfluss. 

Jörg Ernesti

"Die Päpste der letzten 150 Jahre waren Medienpäpste."

DOMRADIO.DE: Pius IX. hat sich als erster Papst der Geschichte fotografieren lassen, Pius XI. sprach als erster Papst in ein Mikrofon. Benedikt XVI. war der erste Papst mit eigenen Twitter-Account. Wie wichtig war es für den jeweiligen Papst, auf der Höhe der medialen Entwicklungen seiner Zeit zu sein? 

Ernesti: Das war sehr wichtig und wird heute immer wichtiger. Man kann heute in gewissem Sinne von Medien-Papsttum sprechen. Die Päpste der letzten 150 Jahre waren Medienpäpste. Ohne starke Präsenz in den Medien wären die Päpste auch nicht so gegenwärtig und so greifbar beim Kirchenvolk und in der Weltöffentlichkeit.

Tatsächlich waren die Päpste zumindest der letzten 150 Jahre alle auch sehr medienaffin. Am meisten war es natürlich der polnische Papst Johannes Paul II. Aber auch Papst Franziskus schlägt sich im Hinblick auf die Medien sehr wacker, finde ich. 

DOMRADIO.DE: Inwieweit haben sich in den vergangenen 200 Jahren auch die sonstigen Anforderungen an einen potenziellen Papst verschoben? 

Deutsche Ausgabe der Enzyklika "Laudato si" / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Deutsche Ausgabe der Enzyklika "Laudato si" / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )

Ernesti: Vom Papst wird heute mehr denn je erwartet, dass er Gesetzgeber und - noch wichtiger - Lehrer der gesamten katholischen Christenheit ist.

Man muss sich vergegenwärtigen, dass es vor 200 Jahren noch kein universales Gesetzbuch der katholischen Kirche gab, der Papst also in dem Sinne auch noch nicht als Gesetzgeber in Erscheinung getreten ist. Auch die Enzykliken, mit denen sich Päpste heute zu Fragen des Glaubens und der Moral äußern, waren damals gerade erst erfunden, die erste Enzyklika wurde 1740 veröffentlicht.

Heute ist dieses Genre aus der Lehrverkündigung der Päpste nicht mehr wegzudenken. Jeder Papst veröffentlicht Enzykliken, in denen er sich zu Glaubensfragen äußert. 

DOMRADIO.DE: Der Papst als letzter amtierender Monarch Europas - inwieweit ist das Papsttum auch das Relikt einer eigentlich längst untergegangenen Herrschaftsform? 

Ernesti: Das Papsttum hat sicher etwas Anachronistisches, das macht auch einen Teil seiner Faszination aus. Wenn wir auf den Vatikanstaat schauen, ist die Regierungsform dieses Staates, der 1929 neu begründet wurde, vorsintflutlich: Eine Wahlmonarchie mit einem absoluten Herrscher an der Spitze; ein Monarch, der einem Staat vorsteht, der keine Gewaltentrennung kennt, in dem es keine Religions- oder Gewissensfreiheit gibt. Das ist schon anachronistisch.

Im kirchlichen Bereich sieht es etwas anders aus. Da sind die Ortskirchen, also die Kirchen in den einzelnen Ländern der katholischen Christenheit, seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil deutlich aufgewertet worden. Papst Franziskus macht nicht von ungefähr den Gedanken der Synodalität stark, also plädiert immer wieder für eine Form der kollegialen Machtausübung in der Kirche, für Formen der Mitbestimmung, die heute immer wichtiger werden. 

Jörg Ernesti

"Mit Papst Johannes Paul II. und mit den Weltjugendtagen ist das Papsttum wieder "en vogue" gekommen."

DOMRADIO.DE: Erklärt sich denn aus dieser eher unzeitgemäßen Daseins- und Herrschaftsform auch die Faszination an Papst, Papsttum und Vatikan, die immer wieder zu Tage tritt? 

Ernesti: Das Papsttum hat nicht immer eine solche Faszination ausgeübt. Einen regelrechten Aufschwung hat die Beschäftigung mit dem Papsttum erst wieder seit der Jahrtausendwende erlebt. Vorher war das Papsttum in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil etwas in den Hintergrund getreten. Aber mit Papst Johannes Paul II. und mit den Weltjugendtagen ist das Papsttum wieder "en vogue" gekommen.

Diese Faszination eint gläubige wie ungläubige Menschen. Das hat sicher damit zu tun, dass das Papsttum die älteste noch existierende Institution des Abendlandes ist. Es ist eine Institution, die große Wandlungen in der Geschichte erfahren hat und die sich immer wieder angesichts der Herausforderungen der jeweiligen Zeit neu erfunden hat. 

 Papst Johannes Paul II. besucht Berlin am 23. Juni 1996 / © Ernst Herb (KNA)
Papst Johannes Paul II. besucht Berlin am 23. Juni 1996 / © Ernst Herb ( KNA )

DOMRADIO.DE: Sind Sie denn während der Arbeit am Buch auf für Sie neue, vielleicht sogar überraschende Aspekte der Papstgeschichte in diesen vergangenen 200 Jahren gestoßen? 

Ernesti: Die Kirchengeschichte ist zwar mein Beruf, ich lehre Kirchengeschichte an der Universität, ich schreibe und forsche über die Kirchengeschichte. Aber ich muss zugeben, dass ich beim Schreiben dieses Überblicks über 224 Jahre Papstgeschichte immens viel dazugelernt habe. 

Vor allem war es für mich erhellend, ein Pontifikat nach dem anderen abzuarbeiten und dann auch Entwicklungslinien zu sehen. Zu sehen, wie sich das Papsttum über einen längeren Zeitraum verändert hat, war auch für mich spannend. Ich hoffe, es ist auch für die Leser spannend, denn ich habe dieses Buch nicht als Nachschlagewerk fürs Regal geschrieben, sondern wirklich als Lesebuch zum Papsttum. 

DOMRADIO.DE: Sie haben als Kirchenhistoriker die einzelnen Pontifikate mit wissenschaftlicher Distanz untersucht und beschrieben. Haben Sie dennoch so etwas wie besondere Antipathien oder Sympathien für einzelne Papstfiguren festgestellt? Sind Ihnen manche besonders fremd geblieben, andere dagegen vielleicht nähergekommen? 

Ernesti: Besonders am Herzen liegt mir Paul VI., der von 1963 bis 1978 Papst war. Ihm habe ich auch meine erste Papstbiografie gewidmet. Die Faszination für diesen Mann, der in einer der größten Krisen der neuzeitlichen Kirchengeschichte, in der Zeit nach 1968, Papst war, hat mich nie losgelassen.

Papst Paul VI. am 6. Januar 1964 am See Genezareth in Israel / © KNA-Bild (KNA)
Papst Paul VI. am 6. Januar 1964 am See Genezareth in Israel / © KNA-Bild ( KNA )

Paul VI. war ein moderner Mann, ein Großstadtmensch, ein kunstsinniger Mensch, ein Mann des Dialogs, auch wenn er bei den Medien durch das Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung weitgehend in Ungnade gefallen ist.

Antipathie wäre zu stark gesagt, aber ein gewisses Kopfschütteln löst bei mir Gregor XVI. aus, der im frühen 19. Jahrhundert Papst war. Er hat immer wieder die Menschenrechte und die Errungenschaften der modernen Gesellschaft verurteilt. Das kann ich aus heutiger Sicht nicht wirklich nachvollziehen. 

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Quelle:
DR