DOMRADIO.DE: In Ihrem neuen Roman mit dem Titel “Reichskanzlerplatz” geht es auch um die Frage: Wie können größenwahnsinnige Menschen – wie damals Hitler und heute Trump oder Putin – so viele Anhänger um sich versammeln? Haben Sie eine Antwort auf diese Frage gefunden?
Nora Bossong (Autorin): Narzisstische Personen sind häufig Menschen, die durchaus charmant sein können, die sehr manipulativ sind, die eine hohe Intelligenz haben können und diese Intelligenz ganz in den Dienst ihrer Selbstüberhöhung setzen. Und da es ihnen nicht ausreicht, sich allein selbst zu erhöhen, brauchen sie andere Menschen, die das auch mitmachen.
Ihre hohe Intelligenz wird aber nicht für das Gemeinwohl eingesetzt oder für die Lösung mathematischer Probleme oder für anderweitige Dinge, sondern ausschließlich dazu, dass möglichst viele Menschen ihnen nachfolgen, sie bejubeln, ihnen jedes Wort glauben. Das heißt, es wird eine Ersatzreligion gestiftet, ein Kult um diese Person – und das alles, um diesen unglaublichen Hunger an Selbstbestätigung, der aber nie gesättigt werden kann, ansatzweise zu befriedigen.
DOMRADIO.DE: Wie entsteht das Böse? Sie haben sich für Ihren Roman lange mit der Biografie von Magda Goebbels, der Frau von Propagandaminister Joseph Goebbels und Musterfrau der Nationalsozialisten, beschäftigt. Gibt es böse Menschen?
Bossong: Jeder Mensch hat die Möglichkeit, böse zu werden. Mit Giovanni Pico della Mirandola gesprochen, sind wir zwischen die Engel und die Tiere geworfen. Und wir können uns nach oben hin entfalten oder wir können nach unten hin verkümmern oder wie Mirandola sagt: "Du kannst zum Niederen, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt".
Das ist unsere Freiheit: Wir können uns entscheiden. Und diese Freiheit hat die sehr düstere Kehrseite, dass immer wieder Menschen sich zum Bösen hin entwickelt haben.
DOMRADIO.DE: Kann man das Böse überhaupt psychologisierend erklären? Gibt es den Teufel, den Satan, den Diabolus? Können Sie mit solchen Begriffen etwas anfangen?
Bossong: Ich kann damit schon etwas anfangen. Ich würde nur vorsichtig sein, wenn wir damit das Böse externalisieren. Also wenn wir sagen, wir sind eigentlich nicht dafür verantwortlich. Ich glaube doch, dass wir dafür verantwortlich sind. Vielleicht kann man es in einer Dynamik zwischen unserer Eigenverantwortung und, wenn wir so wollen, Gnade betrachten oder dem, was unseren eigenen freien Willen übersteigt. Wenn wir das in ein Spannungsverhältnis setzen wollen, können wir sagen, dass manche zumindest offener sind, die Verführung hin zum Bösen zuzulassen.
Nehmen wir Jesus in der Wüste. Er widersagt dem Teufel. Das ist ja auch das, was beispielsweise bei der Firmung versprochen wird: Ich widersage! Das ist etwas, was man aber nicht zwangsläufig tut. Um noch mal in diesem Bild zu bleiben. Ich nehme den Teufel nicht als eine Person, die durch die Welt läuft und uns verführt – und wir sind sozusagen die Unschuldsengel, sondern es sind Dynamiken. Es sind Dynamiken, die uns vielleicht ein Angebot machen, was für uns auf den ersten Blick oder auch auf den zweiten Blick in eine Vorteilsposition bringt, bei denen es aber klar ist, dass andere dafür zahlen müssen.
DOMRADIO.DE: Ihr Roman handelt auch vom Scheitern der Weimarer Republik. Kann man die Situation damals übertragen auf die heutige Zeit?
Bossong: Es gab viele Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik, und die lassen sich natürlich nicht alle auf die heutige Zeit übertragen. Damals war Deutschland ein Land, das gerade einen Weltkrieg verloren hatte. Ein Kaiserreich, also eine bestimmte Staatsform, war kollabiert. Die Menschen waren überhaupt nicht an Formen der Demokratie gewöhnt. Es waren auch nicht unbedingt alle hellauf begeistert davon. Das ist natürlich heute ganz anders.
Es gab aber auch Parallelen. Durch den Weltkrieg und auch durch die Wirtschaftskrise sind damals Vermögenswerte nivelliert worden – auch bei Sparern, die im normalen Maß gespart haben, die Dinge zurückgelegt haben. Das war weg. Und in dem Moment, in dem man kein Vermögen hat, ist man bereiter, radikale Lösungen zu probieren, weil man nicht gerade auf der Glücksseite des Lebens sitzt und zum anderen auch nicht so viel zu verlieren hat.
Und das kann man auch auf Ostdeutschland nach der Wende übertragen. Da sind Fehler begangen worden und sehr viele Menschen sind um ihr einziges Vermögen oder das, was sie waren, wo sie standen, gebracht worden. Da ist die Versuchung eine radikalere Antwort größer – ob die jetzt links oder rechts ist – mal zu probieren, als wenn man sagt: Na ja, und ich sitze hier seit 30 Jahren und ach, da habe ich mein Eigenheim, das habe ich schon von meinen Eltern geerbt und es ist eigentlich in den letzten 30 Jahren im Wert um noch mal 50 % oder 80 % gestiegen. Dann wünsche ich mir eher, dass Stabilität herrscht. Es sind einfach kleine Dinge, die allein noch keine Demokratie stürzen, aber wenn viele Dinge zusammenkommen, dann wird es zumindest wackliger.
DOMRADIO.DE: Sie gelten als eine aufmerksame Beobachterin der politischen Gegenwart. Wie schätzen Sie die Situation im Augenblick ein? Wie stabil ist unsere Demokratie?
Bossong: Wir leben in einer sehr instabilen Zeit. In den 90er Jahren waren wir im Westen davon überzeugt, dass unsere Geschichte an ein Ende angekommen ist, das heißt, die Demokratie hat sich durchgesetzt, die Marktwirtschaft und Demokratie gehören zusammen und sind das Stabilste überhaupt, worauf unser gesicherter Wohlstand aufbaut. Das hat sich nun als nicht stimmig erwiesen. Das Autoritäre und auch das Diktatorische haben immer mehr Zulauf. Zum Teil wird das auch aufoktroyiert. Sicherlich ist nicht jeder Mensch, der in Russland lebt, ein Freund von Putin. Aber es gibt auch viele, die das toll finden, also der "starke Mann" und "das starke Reich" usw.
Wir leben auch in einer Zeit, in der Religion zumindest im Westen eine immer geringere Rolle spielt, in der auch Hochmut sehr zunimmt. Und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen sich selbst auf der ganz sicher richtigen Seite zu glauben, also sich selbst nicht mehr zu hinterfragen. Dann gehen viele mit Tunnelblick voran und übersehen auch die Fehler, die man selbst macht.
Der andere Hochmut ist der ganz klassische, dass man meint, Gott braucht man nicht mehr. Das hat auch mit den Kirchen zu tun, die viele Fehler gemacht haben, was dazu geführt hat, dass Menschen sich abwenden und vielleicht auch den Hochmut eher bei Würdenträgern der Kirche sehen. Und das nicht immer zu Unrecht.
Ich erlebe das im Kulturbetrieb häufig, dass Menschen sich selbst zu großartig finden und das Artefakt, was sie selbst geschaffen haben, für grandios halten. Da wäre etwas mehr Demut gesünder. Das würde ich mir sehr wünschen – ich glaube, das tut auch unserer Gemeinschaft und Gesellschaft gut.
Das Interview führte Johannes Schröer.