Behindertenverbände fordern gesellschaftliche Teilhabe

Jede Barriere ist eine zu viel

Seit 20 Jahren pochen Behindertenverbände mit dem "Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung" auf eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe. Mit der ersten Aktion 1992 bekam die aufkeimende Selbsthilfebewegung in Deutschland kräftig Wind in die Segel. Zeitzeuge Ottmar Miles-Paul: "Wir waren die jungen Wilden der Behindertenbewegung."

Autor/in:
Dirk Baas
 (DR)

Miles-Paul, sehbehinderter Diplom-Sozialarbeiter und heute Behindertenbeauftragter in Rheinland-Pfalz, lernte während eines 15-monatigen Aufenthaltes in Berkeley bei San Francisco die vorbildliche Behindertenpolitik der USA hautnah kennen. Ihm wurde klar: Ohne eine fortschrittliche Sozialgesetzgebung würde die Gleichstellung Behinderter in Deutschland nur mühsam vorankommen.



1973 wurde im US-Rehabilitationsgesetz festgeschrieben, dass keine Bundesmittel ausgegeben werden durften, wenn dadurch behinderte Menschen benachteiligt werden. Das galt indes nur für den staatlichen Sektor. 1990 dann erreichte die streitbare US-Behindertenbewegung den Durchbruch: Präsident George Bush Senior unterzeichnete das Antidiskriminierungsgesetz, Basis für die heute weitgehend verwirklichte Barrierefreiheit in Geschäften, Hotels, Restaurants, Verkehrsmitteln und öffentlichen Gebäuden.



"Warum soll nicht auch bei uns ein solches Gesetz möglich sein?", fragten sich Miles-Paul und seine Mitstreiter im Verein "Selbstbestimmt Leben" damals. Erster Schritt dazu war die Gründung des "Initiativkreises Gleichstellung Behinderter". Der formulierte 1991 sowohl das Ziel der Aufnahme eines Benachteiligungsverbotes für Behinderte ins Grundgesetz als auch die Verabschiedung eines Bundesgleichstellungsgesetzes für Behinderte im "Düsseldorfer Appell".



"Uns wurde nichts geschenkt"

"Uns wurde nichts geschenkt", blickt der Aktivist zurück. Gern auch auf spektakuläre Aktionen, die zu dicken Schlagzeilen führten: Weil Rollstuhlfahrer nicht zur Bürgersprechstunde in ein Berliner Rathaus gelangen konnten, ermöglichte ein Hublift den Kontakt in luftiger Höhe.



Die Reform des Grundgesetzes 1994 gilt als erster Erfolg. In Artikel 3 wurde eingefügt: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." 1997 erreichte die Lobbyarbeit mit der Kampagne "Aktion Grundgesetz", die von über 100 Behinderten- und Sozialverbänden getragen und von der Aktion Mensch gefördert wurde, eine neue Qualität. Gemeinsam wollen die Beteiligten erreichen, dass das Benachteiligungsverbot tatsächlich im Alltag umgesetzt wird.



Der nächste Etappensieg fiel in das Jahr 2002. Am 1. Mai trat das Bundesgleichstellungsgesetz in Kraft. Menschen mit Behinderungen sollen alle Lebensbereiche "in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernisse und grundsätzlich ohne fremde Hilfe" nutzen können. Zudem wurde die Deutsche Gebärdensprache als eigenständige Sprache anerkannt.



Schließlich folgte 2006 das bis zuletzt heftig umkämpfte Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), umgangssprachlich auch Antidiskriminierungsgesetz genannt. Es basiert auf Vorgaben der EU und soll Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung oder des Alters verhindern.



Bestehende Barrieren in den Köpfen

Es sei viel erreicht worden seit 1992, urteilt Miles-Paul, schränkt aber ein: "Wir bewegen uns im europäischen Vergleich erst im Mittelfeld." Es gebe "noch wahnsinnig viele Baustellen". "Nach wie vor gibt es Barrieren sowohl in den Köpfen als auch im Alltag", resümiert auch Thorsten Hinz, Geschäftsführer des Caritas-Fachverbandes Behindertenhilfe und Psychiatrie. Es fehle an günstigen barrierefreien Wohnungen, noch immer seien Nachrichten, Formulare oder Gebrauchsanweisungen nicht für jedermann verständlich. Zudem vermisse man auf Bahnhöfen noch oft Fahrstühle.



"Die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen können wir nur verwirklichen, wenn sie kein Spezialthema für die Behindertenhilfe und -selbsthilfe bleibt, sondern von möglichst vielen Menschen mitgetragen wird", betont Martin Georgi, Vorstand der "Aktion Mensch". Deshalb seien Protesttage noch immer wichtig: "Bundesweit finden diesmal mehr als 600 Aktionen statt und bringen das Thema Barrierefreiheit überall hin."