DOMRADIO.DE: Wie finden Sie einen Tag, an dem für Sie und die anderen Betroffenen sexuellen Missbrauchs gebetet wird?
Johannes Norpoth (Mitglied der Begleitgruppe als Betroffener aus dem Bistum Essen und Mitglied des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz): Das ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits befürworte ich einen solchen Tag, weil es um den Beginn einer Erinnerungskultur in unserer Kirche geht. Wir stellen als Betroffene fest, dass der sexuelle Missbrauch im Raum der Kirche zunehmend zum Alltag geworden ist.
Zudem bekommen wir Betroffene in den Gemeinden oftmals zu hören, dass es doch mal gut sein müsste, da es schon lange her sei. Das geht soweit, dass sie es nicht wahrhaben wollen. Insofern ist der Gebetstag ein richtiger und guter Ansatz, um in unserer Kirche zu einer dauerhaften Erinnerungskultur zu kommen.
Andererseits ist es zweischneidig, weil es der Kirche an tätiger Reue fehlt. Es ist nicht mit einem Erinnerungstag getan, sondern Reue muss tätig sein und da hat die katholische Kirche in Deutschland, und weltweit, noch erheblich Luft nach oben.
DOMRADIO.DE: Einige Bistümer setzen in den Verhandlungen mit Betroffenen darauf, dass Taten weit zurückliegen, da schwerer Missbrauch nach 20 Jahren verjährt. Laut Gesetz haben die Bistümern recht. Aber Sie sehen die Kirche dennoch in der Pflicht, oder?
Norpoth: Ja, weil es geht an dieser Stelle ausdrücklich nicht um die Frage des Rechtsinstruments der Verjährung. Das ist ein uraltes Rechtsinstrument und ich befürworte Verjährungsfristen generell, weil es irgendwann Rechtssicherheit braucht. Allerdings haben wir hier eine besondere Situation, da die Kirche als Institution nachhaltig dafür gesorgt hat, dass diese Taten eben nicht an die Öffentlichkeit kommen.
Sie hat aktiv Vertuschung betrieben. Das ist der Skandal im Skandal. Sie hat dafür gesorgt, dass es eben keine Klagen möglich waren und, dass Taten nicht an die Öffentlichkeit kamen. Insofern hat die Kirche hier eine extrem hohe moralische Verantwortung.
Kirche ist die Institution, die als einzig moralsetzende Instanz auf dieser Welt auftritt. Daher muss sie sich ihrer entsprechenden Verantwortung bewusst sein und sich diesen zivilrechtlichen Aufklärungswegen schlicht und ergreifend stellen und nicht versuchen, diese mit dem Rechtsinstrument der Einrede der Verjährung abzuwehren. Das gilt insbesondere dann, wenn klar ist, dass es sich um eindeutig Betroffene sexualisierter Gewalt handelt.
DOMRADIO.DE: Es gibt aber auch Fälle, in denen das Bistum nicht auf Verjährung gesetzt hat, beispielsweise Essen.
Norpoth: Ja, ich habe als digitalen Hintergrundbild immer einen Überblick über meine Heimatstadt Gelsenkirchen und bin froh und dankbar, in diesem Bistum zu leben. Das Bistum Essen hat explizit auf die Einrede der Verjährung verzichtet und das mit Unterstützung der entsprechenden Gremien, wie unter anderem dem Vermögensrat. Da gibt es an dieser Stelle andere Bistümer, insbesondere in Nordrhein-Westfalen, vermutlich im Sendegebiet, die das nicht tun.
DOMRADIO.DE: In Rom wurde kürzlich die Bischofssynode abgeschlossen. Sind die Delegierten Ihrer Meinung nach genügend auf die Vorbeugung sexuellen Missbrauchs eingegangen?
Norpoth: Die Antwort ist relativ einfach: Nein, eindeutig nein. Es hat zwar zu Beginn der letzten Plenarphase im vergangenen Oktober in Rom dieses große Bußvigil mit einer großen Vergebungsbitte zum Thema sexualisierter Gewalt in dieser Kirche gegeben. Denn es ist kein deutsches Problem, sondern es betrifft die Kirche an jedem Ort in dieser Welt. Aber danach war Ruhe.
Es hat keiner als Vertreter der Betroffenen an der Weltsynode im Abschlussbericht teilgenommen. Das ist ein absoluter Hohn, das muss man einfach sagen. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, hat das noch zu Wort gebracht und gesagt, dass hier sexualisierte Gewalt direkt in Verbindung mit sonstigen Unzulänglichkeiten gebracht wird, was es erneut bagatellisiert.
Insofern bin ich davon ausgegangen, dass in Rom, das sich seit 1995 mit dem Thema offiziell beschäftigt, ein bisschen Erkenntnis eingetreten ist. Das ist aber nicht der Fall. Das muss man nach diesem Bericht der Weltsynode feststellen.
DOMRADIO.DE: Wie würden Sie sich einen Gebetstag für Betroffene sexuellen Missbrauchs wünschen?
Norpoth: Ich würde mir wünschen, dass Pfarrgemeinden, Bistümer sowie alle Gremien und Organe diesen Tag nutzen, um sich auf den Weg zu einer wirklichen Erinnerungskultur zu machen, dass es am Ende zu einer Haltungsänderung kommt. Das ist das, was ich eingangs gesagt habe. Was mir schlicht und ergreifend fehlt, ist eine flächendeckende Haltungsänderung gegenüber sexualisierter Gewalt, insbesondere gegenüber Betroffene.
Das betrifft an dieser Stelle nicht nur die Bischöfe, sondern alle, die in diesem Rahmen Verantwortung tragen, angefangen von Gemeinderäten und Kirchenvorständen vor Ort bis hin zu den Diözesanräten, aber auch ehrenamtlich Engagierte in Vermögensräten zum Beispiel. Hier braucht es endlich eine entsprechende Haltungsänderung, die aus dem Wort und Versprechen, dass man sich an die Seite der Betroffenen stellt, tatsächlich Taten folgen lässt.
Der selige Adolph Kolping hat gesagt: "Nicht das Wort, die Tat ziert den Mann." Ich wandele das heutzutage ab: Nicht das Wort, die Tat ziert den Menschen. Beim Wort sind wir alle gut in dieser Kirche, aber bei der Tat haben wir noch erheblich Entwicklungspotenzial.
Das Interview führte Tobias Fricke.