DOMRADIO.DE: Reliquien sind für viele Katholikinnen und Katholiken wichtig. Andere aber betrachten die Verehrung von Knochen und Skeletten eher kritisch. Warum hält denn die Kirche daran so fest?
Manfred Becker-Huberti (Brauchtumsexperte): Der Gottesdienst der Christen ist ursprünglich immer über dem Grab von Märtyrern gefeiert worden. Das heißt, es gab grundsätzlich nur dort einen Gottesdienst, wo Märtyrer begraben waren. Als sich der Glaube ausbreitete, musste man dafür sorgen, dass Märtyrer oder Reste dieser Märtyrer auch an die Stellen gebracht wurden, wo dann Gottesdienst gefeiert wurde. Etwa in unsere Gegend, wo es im siebten, achten Jahrhundert kaum christliche Märtyrer gab.
Die Gräber der Märtyrer sind normalerweise unter dem Altar, beispielsweise in der Peterskirche in Rom, wo man unter den Altar gehen kann, in die Gruft in der Unterwelt, wo sich die Gräber befinden. Auch im Altar gibt es die Gräber: Es gibt dann Steintafeln, in die die Gebeine eingelassen sind, die in dem Altar liegen. Diesen Stein kann man mitnehmen zu einem anderen Altartisch. Das ist praktischer und praxisorientierter. Es gibt keinen Gottesdienst in der katholischen Kirche, der nicht über Märtyrergebeinen gefeiert wird.
DOMRADIO.DE: Was für eine Entwicklung nehmen Sie denn beim Reliquienkult wahr?
Becker-Huberti: Es ist ganz interessant, dass auf der einen Seite das Unverständnis gegenüber Reliquine gewachsen ist. Auf der anderen Seite sind die Reliquien nach wie vor interessant für viele Menschen. Parallel im säkularen Bereich passiert es pausenlos, dass Leute sich Reliquien zurücklegen. Es sind dann nicht die Knochen der Oma, aber irgendwelche Dinge aus der Zeit der Oma, die man dann zu Hause irgendwo aufbewahrt, um eine Verbindung damit zu haben. Reliquien sind immer ein Stück aus einer Geschichte, das in die Gegenwart geholt wird.
Es ist ein Verbindungsstück. Genauso ist es mit den Reliquien von Heiligen. Die Vorstellung, die dahintersteht, ist die, dass der Heilige, der im Himmel ist, auch präsent ist in seinen Reliquien. Denn diese Knochen wird er am Jüngsten Tag wieder in Besitz nehmen, nämlich dann, wenn er wieder mit Fleisch bekleidet wird, so wie das in der Bibel steht. Dementsprechend sind diese Reliquien eine Verbindungsbrücke zwischen hier und dem Himmel. Man betet Reliquien nicht an, aber man verehrt sie.
DOMRADIO.DE: Wie entsteht eine Reliquie, wie ist der Ablauf?
Becker-Huberti: Es gehört zu einer Seligsprechung dazu, dass zuvor die Gebeine desjenigen, der selig gesprochen werden soll, erhoben werden. Erstens geht es darum, festzustellen: Was ist noch von ihm übrig? Zweitens werden Teile der Gebeine entnommen, um Reliquiare zu bilden. Drittens will man ausschließen, dass sich plötzlich Reliquien vervielfältigen, wie das im Mittelalter in vielen Fällen geschehen ist.
Es gibt Bilder davon, wie das Grab der alten Kirche neben dem WDR geöffnet wird. Ich war damals dabei. Damals ist der Sarg geöffnet worden, die Gebeine entnommen. Der Pathologe ist hingegangen und hat alles ganz genau beschrieben: Jeden Knochen und jedes Bestandteil in dem Sarg. Anschließend wurde alles wieder zusammengepackt und in den Sarg gelegt und der Sarg versiegelt, um sicherzustellen, dass nicht irgendwer dem Sarg wieder etwas entnimmt. Das sind solche Regeln, die es gibt.
Der Papst bekommt von jedem, der seliggesprochen wird, ein Reliquiar, der zuständige Bischof der Diözese bekommt einige Exemplare von den Reliquiaren, damit Kirchen, die nach diesem Heiligen oder Seligen benannt werden, dann auch Reliquien haben.
DOMRADIO.DE: Warum eigentlich dürfen Reliquien nicht gekauft werden?
Becker-Huberti: Weil Reliquien der Allgemeinheit gehören und nicht in persönlichen Besitz übergehen sollen. Im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit ist damit Missbrauch betrieben worden. Reiche Leute haben sich Reliquienschätze angehäuft und geglaubt, dass sie so eine Art Versicherung auf diese Art und Weise aufgebaut hätten und sich schützen könnten gegen alles und jedes. Das nahmen sie für sich persönlich in Anspruch und nicht für die Allgemeinheit. Das kann nicht im Interesse der Leute liegen.
Außerdem gab es die Vorstellung, dass das, was neben einer Reliquie liegt und ihr ähnelt, diese Reliquie vervielfältigt. Wenn ich neben den Unterschenkel eines Heiligen einen anderen Unterschenkelknochen lege, dann springt die Heiligkeit über, und ich habe die Reliquie vervielfältigt. So haben Sie zum Beispiel bei dem heiligen Petrus von Mailand 21 Beine.
Das Interview führte Tim Helssen.