DOMRADIO.DE: Sie stehen in direktem Kontakt mit Ihren Kolleginnen und Kollegen vor Ort. Wie ist die Lage in der Ukraine?
Henrike Bittermann (Caritas International): Ich hatte jetzt gerade ein Gespräch mit meinen Kolleg:innen vor Ort. Das ging eine halbe Stunde und innerhalb dieser Zeit gab es schon wieder neue Informationen über neue Angriffe, über das Vorrücken der russischen Armee. Also, die Situation momentan ist sehr unübersichtlich. Es geht Schlag auf Schlag, neue Auseinandersetzungen an verschiedenen Orten. Ja, es gibt minütlich neue Informationen.
Wir arbeiten als Hilfsorganisation in der ganzen Ukraine, insbesondere aber auch im Osten der Ukraine, wo wir eigentlich humanitäre Hilfe für Menschen in der Pufferzone leisten. Inzwischen ist die Situation aber so unübersichtlich, dass wir auch unsere Mitarbeitenden erst einmal in Sicherheit bringen mussten, um jetzt ein bisschen aus der Entfernung zu schauen: Wie können wir die Menschen weiterhin unterstützen?
DOMRADIO.DE: Wie geht es Ihren Kollegen und Kolleginnen vor Ort?
Bittermann: Die sitzen insbesondere in Lviv, relativ weit im Westen der Ukraine und in Kiew. Das sind die Kolleg*innen, die im Nationalbüro arbeiten. Wir haben aber auch viel mit den Caritas-Verbänden vor Ort zu tun, also auch weiter im Osten. Also unsere Kolleg:innen sind überall und viele mussten sich jetzt erst mal in Sicherheit bringen. In Lviv und in Kiew ist die Situation gerade noch überschaubar. Die Kolleg:innen sind nicht im Büro, aber zu Hause erst einmal in Sicherheit. Wir müssen die Situation einfach aktuell evaluieren.
DOMRADIO.DE: Aber Telefon und Internet gibt es noch?
Bittermann: Telefon und Internet funktionieren momentan noch. Man rechnet natürlich auch mit einer Cyberattacke aus Russland und auch damit, dass das Netz irgendwann zusammenbricht. Momentan versuchen natürlich alle Menschen vor Ort mit ihren Angehörigen, die weiter im Osten leben oder näher an der Kampfzone liegen, im Kontakt zu sein. Insbesondere die Kolleg:innen aus den lokalen Verbänden, die nahe an den Kämpfen sind, also insbesondere in Kramatorsk und auch Mariupol, versuchen gerade sich aus den Städten zu bewegen, aufs Land zu gehen, um erstmal den Gefechten aus dem Weg zu gehen.
DOMRADIO.DE: Was wissen Sie von der Lage in der Ostukraine?
Bittermann: Wie gesagt, es ist sehr unübersichtlich. Man hört aber natürlich, dass insbesondere aus den Gebieten Luhansk und Donezk die russischen Truppen weiter vorrücken. Es gibt minütlich, stündlich Beschuss, man hört Explosionen. Viele Menschen bringen sich auch in Bunkern in Sicherheit.
Und es ist ja auch nicht das erste Mal, dass das passiert. Man muss ja auch beachten, dass dieser Krieg in der Ukraine eigentlich seit 2014 nie wirklich gestoppt hat. Durch das Minsker Abkommen gab es theoretisch einen Waffenstillstand. Aber es gab auch in den letzten acht Jahren immer wieder kämpferische Auseinandersetzungen, die aber nicht in diesem Ausmaß stattgefunden haben. Was jetzt gerade passiert, dass diese wirklich flächendeckende Invasion von der russischen Seite stattfindet, das konnten wir uns in unseren schlimmsten Vorstellungen und Sicherheitsplänen so nicht vorstellen.
DOMRADIO.DE: Wie sieht es denn im Moment konkret mit Ihrer Hilfsarbeit aus, die sie als Caritas machen? Kann das überhaupt im Moment stattfinden?
Bittermann: Wir müssen natürlich auch darauf schauen, dass unsere Mitarbeitenden in Sicherheit sind. Deswegen wurden bestimmte Maßnahmen insbesondere in der Pufferzone erst einmal ausgesetzt bzw. in den Online-Modus verschoben. Bestimmte Aktivitäten können auch per Telefon und Online stattfinden. Wenn es jetzt aber zum Beispiel um die Verteilung von humanitären Hilfsgütern geht, müssen wir da momentan einfach die Sicherheit der Mitarbeitenden an erster Stelle setzen und versuchen, die Situation weiter zu evaluieren und auch zu schauen, von wo aus wir in den nächsten Tagen wieder Stationen einrichten können. Es wird wahrscheinlich auch wieder viele Binnenvertriebene geben. Das muss aber erst mal beobachtet werden. Die ukrainischen Sicherheitskräfte können unseren Teams in der aktuellen Situation keinen Schutz gewähren. Deswegen müssen wir da ein bisschen die Aktivitäten runterfahren.
DOMRADIO.DE: Sie haben ja das Land jetzt kurzfristig auf Wunsch des Außenministeriums verlassen. Wie ist das abgelaufen?
Bittermann: Das Auswärtige Amt hat ja schon verschiedene Ausreiseaufrufe in den letzten Wochen gestartet. Ich bin nach ihrem zweiten Aufruf vor anderthalb Wochen ausgereist. Damals habe ich natürlich auch mit meinen Kolleg:innen vor Ort, meinen Freunden, Bekannten gesprochen, die das in dem Moment noch nicht so richtig nachvollziehen konnten, weil die Bedrohung zwar da war, aber nicht allzu akut empfunden wurde - auch insbesondere so weit im Westen des Landes. Also aufgrund des Aufrufs bin ich dann ausgeflogen, habe aber auch nur die nötigsten Sachen mitgenommen. Der meiste Teil meines Besitzes ist weiterhin in Lemberg. Ich habe dann aus Deutschland aus angefangen, “remote” zu arbeiten, weiterhin mit den Kolleg:innen in Kontakt zu sein.
In der letzten Woche gab es ja schon verschiedene Eskalationsstufen von russischer Seite, auch durch die Anerkennung der beiden sogenannten "Volksrepubliken". Und dass jetzt in der Nacht die Invasion begann, damit hat niemand von den Menschen vor Ort in diesem Ausmaß gerechnet, und auch wir nicht. Natürlich haben wir insbesondere für die Projekte bestimmte Abläufe, die jetzt in Kraft treten, um zum einen Menschen zu schützen, weiterhin unterstützen zu können, aber auch an die Situation angepasst zu reagieren. Da versuchen wir jetzt gerade unser Bestes.
DOMRADIO.DE: Der Konflikt schwelt schon seit acht Jahren, die Bedrohung ist also nicht neu. Können Sie nachvollziehen, warum dieser Angriff die Menschen in der Ukraine jetzt doch so überrumpelt hat?
Bittermann: Es war natürlich schon lange bekannt, dass extreme Massen von russischen Truppen an den Grenzen der Ukraine stehen. Es wurde in verschiedenen Szenarien gedacht, was passieren könnte. Aber man muss auch bedenken, dass es nicht der erste Aufmarsch von russischer Seite war. Es wurden schon öfter Truppen an den Grenzen zusammengezogen und es ist nicht zu dieser Eskalation gekommen. Natürlich war das jetzt auch noch eine andere Auslegung. Es gab andere Voraussetzungen auch auf Truppenseite von Russland mit allem Equipment, was sie für die Invasion, die passiert ist, brauchen. Aber dadurch, dass dieser Krieg einfach schon so lange schwelt, hat niemand gedacht, dass Putin das wirklich durchziehen wird. Weil es auch einfach extreme Kosten für Russland bedeutet, jetzt auch durch Sanktionen der EU und der NATO. Man möchte auch immer daran festhalten oder daran glauben, dass das nicht passiert und dass diese Eskalationsstufe in der heutigen Zeit nicht eintritt.
DOMRADIO.DE: Die Menschen in der Ukraine werfen Deutschland und dem Westen vor, den Krieg und die Bedrohung zu lange aus wirtschaftlichen Gründen ignoriert zu haben. Können Sie diesen Unmut nachvollziehen?
Bittermann: Schwierig zu sagen, aus meiner Position heraus. Das internationale Interesse für diesen Konflikt war dort zu Beginn und immer dann, wenn Russland wieder einen Schritt unternimmt, wie zum Beispiel Truppen an den Grenzen zusammenzuziehen, größer. Sonst ist es halt ein köchelnder Konflikt, wo nicht viel passiert und der ja auch für für das Ausland wenig Effekte hat. Was viele Ukrainer auch mir gegenüber immer gesagt haben in den letzten Wochen, ist, dass sie auch gerade von Deutschland enttäuscht waren, durch das Nichthandeln, das Nicht-Standpunkt-Beziehen gegenüber Russland. Das ist natürlich jetzt auch passiert in dieser Woche. In letzter Woche kamen dann auch deutliche Statements vom Bundeskanzler und aus dem Auswärtigen Amt, aber es wurde nie deutlich gemacht, was für Sanktionen es denn wären, die Russland zu erwarten hätte. Da kam sehr viel Kritik von Seiten der Ukraine.
DOMRADIO.DE: Blicken Sie denn in irgendeiner Art und Weise schon in die Zukunft? Möchten Sie zurück in die Ukraine?
Bittermann: Ich wünsche mir natürlich wieder, zurückzugehen. Ich wünsche mir, dass Russland seine Truppen abzieht und die Ukraine weiterhin ein eigenständiges Land sein kann. Aber dadurch, dass innerhalb der letzten Stunden schon so viel passiert ist, kann man es, glaube ich, einfach nicht absehen, wie es morgen aussieht und schon gar nicht, wie es in einer Woche oder einem Monat aussieht.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.