DOMRADIO.DE: Sie haben Kinder mit besonderem Förderbedarf an Ihrer Schule, die keine Regelschule besuchen können. Helfen Sie uns bei der Einordnung.

Tobias Mörth (Schulleiter der Heinrich-Tellen-Schule in Warendorf): Wir sind eine Förderschule für geistige Entwicklung. Wir unterrichten Kinder ab der ersten Klasse bis hin zu jungen Erwachsenen, die bald die Berufsschule besuchen. Dann sind die etwa 18 bis 20 Jahre alt. Bei uns haben Eltern eine Wahlmöglichkeit. Sie können das gemeinsame Lernen oder die Förderschule als Lernort für ihre Kinder wählen. Die meisten entscheiden sich für die Förderschule.
DOMRADIO.DE: Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat eine Umfrage zu Gewalterfahrungen von Lehrkräften gemacht. Betrifft das auch Ihre Kollegen?
Mörth: Ja, das betrifft auch unser Kollegium. Ich kann das eins zu eins bestätigen. Nahezu alle haben Gewalterfahrungen gemacht. Das ist quasi unser täglich Brot. Wir sind immer wieder mit besonders herausfordernden Situationen konfrontiert. Manche Kolleginnen und Kollegen haben teilweise täglich Gewalterfahrungen mit Schülerinnen und Schülern.
DOMRADIO.DE: "Herausforderung" ist eine harmlose Formulierung für Gewalterfahrungen. Werden Kinder immer übergriffiger?
Mörth: Es werden vor allem immer mehr Kinder. In allen Förderschulen steigt die Schülerzahl jährlich. In den letzten sechs Jahren in meiner Schule ist die Zahl um 30 Prozent angestiegen. Wir haben immer mehr Kinder mit traumatisierenden Ereignissen in ihrem Leben, immer mehr Kinder mit Autismusdiagnosen. Corona spielt da sicherlich mit hinein. Es gibt viele einzelne Faktoren, die zusammenwirken. Wir bekommen immer mehr Kinder aus Kindergärten, aus denen die Erzieher berichten, dass sie an ihr Limit kommen – und diese Kinder übernehmen wir dann.
DOMRADIO.DE: Wie geht es Ihrem Kollegium damit?
Mörth: Ich habe ein tolles Kollegium, und das ist erstmal super. Alle haben große Freude an ihrer Arbeit. Aber diese Belastung ist natürlich ein großes Thema. Wir versuchen, das aufzufangen, aber die Krankheitsmeldungen nehmen zu und Stress und Überforderung spielen auch eine Rolle.
DOMRADIO.DE: Sie und Ihr Kollegium sind bewusst Lehrerinnen und Lehrer an einer Förderschule geworden. Was ist Ihre gemeinsame Motivation?
Mörth: Wir freuen uns über kleine Fortschritte und wenn Jugendliche ihre Ziele erreichen. Wir unterrichten gerne und begleiten Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung auf ihrem Weg. Trotz der Gewalterfahrungen, die zu unserem Alltag gehören, erleben wir auch viel Freude am Beruf und viele gute Momente in der Schule. Das zu betonen ist mir sehr wichtig.
Das Positionspapier ist keine Klageschrift. Es soll darauf aufmerksam machen, dass wir mehr Ressourcen, Personal und Raum brauchen und individueller denken müssen, als das aktuell der Fall ist.
DOMRADIO.DE: In diesem Positionspapier fordern Sie und die anderen Caritas-Schulen im Bistum Münster grundlegende Veränderungen vom Schulministerium.
Mörth: Wir brauchen mehr und teilweise auch anderes Personal. Wir müssen Kollegen nach Gewalterfahrungen supervisieren, damit sie stabil in ihrem Job bleiben können. Wir brauchen ein besseres Team-Teaching, mehr Schulsozialarbeit und individuelle Begleitung für manche Schüler.
Außerdem brauchen wir mehr Räume. Manche Kinder benötigen einen eigenen Raum, um Teilhabe am Leben erleben zu können. Das Schulministerium muss genauer hinschauen. Es ist seine Aufgabe uns für solche Situationen zu stärken.
Wir brauchen auch mehr Zeit für Leitungsaufgaben. Wir müssen die Kollegen unterstützen, kommunizieren und individuelle Wege bauen, mit Eltern reden. Fortbildung ist auch ein großes Thema für moderne Sonderpädagogik.
DOMRADIO.DE: Jetzt sagt das Schulministerium möglicherweise: In Zeiten knapper Kassen können wir uns das alles nicht leisten. Was passiert, wenn sich nichts ändert? Halten Sie das aus?
Mörth: Ich habe ein tolles und größtenteils stabiles Team. Aber das System könnte zusammenbrechen. Die Gefahr ist, dass Kinder nicht mehr beschult werden können und der Kinderschutz leidet. Schon jetzt können nicht alle Schüler ganztags kommen, weil Personal fehlt. An allen Förderschulen gibt es vom Unterricht ausgeschlossene Kinder.
Meine große Sorge ist auch, dass das Kollegium nach und nach wegbricht, erkrankt, längere Ausfallzeiten hat und den Job nicht mehr so hochwertig machen kann wie aktuell.