Caritas International mahnt Aufmerksamkeit für Ukraine an

"Sozialsystem als solches gerät ins Wanken"

In der Schweiz treffen sich Vertreter von 92 Staaten, um sich über den Frieden in der Ukraine zu beraten. Eines der Themen ist die humanitäre Lage in der Ukraine. Oliver Müller sieht für den Sozialstaat große Herausforderungen.

Symbolbild Frau vor einem zerstörten Haus in der Ukraine / © Kharaim Pavlo (shutterstock)
Symbolbild Frau vor einem zerstörten Haus in der Ukraine / © Kharaim Pavlo ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Bekommt die humanitäre Lage in der Ukraine genug Aufmerksamkeit?

Oliver Müller (Caritas international) (dpa)
Oliver Müller (Caritas international) / ( dpa )

Oliver Müller (Leiter von Caritas International): Alles in allem steht es immer wieder im Mittelpunkt. Zum Beispiel in der Berichterstattung, weil es sich schlichtweg nicht übersehen lässt, wie viele zivile Todesopfer es gibt. Es sind bereits 11.000 Tote. 

Allein in der Ukraine sind 17 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das heißt, wenn man über das Land spricht, wenn man es bereist, dann steht diese humanitäre Not im Mittelpunkt. Allerdings und das wird schnell offenbart, ist es für das Land schwierig, die Bedarfe auch zu stillen, weil es schlichtweg an Mitteln dafür fehlt.

Oliver Müller

"Der Sozialstaat in der Ukraine steht vor großen Herausforderungen." 

DOMRADIO.DE: Es geht oft um Waffenlieferungen. Beim G7-Gipfel wurde ein verstärkter Austausch mit der Ukraine und den USA zum Beispiel vereinbart. Es sollen neue Luftabwehrsysteme geliefert werden. Liegt der Fokus zu stark auf Waffenlieferungen?

Papst Franziskus beim G7-Gipfel am 14. Juni 2024 in Fasano (Italien) / © Vatican Media/Romano Siciliani (KNA)
Papst Franziskus beim G7-Gipfel am 14. Juni 2024 in Fasano (Italien) / © Vatican Media/Romano Siciliani ( KNA )

Müller: Vom 11. bis 12. Juni war die Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine. Als Caritas International waren wir dort mit Caritas Ukraine vertreten und haben am Rande davon eine Veranstaltung organisiert. Genau diese Frage, die Sie gerade ansprechen, stand im Mittelpunkt. 

Wenn man über Hilfe für die Ukraine spricht und über den Wiederaufbau, muss es vor allem auch um die soziale Hilfe gehen, nicht nur um Waffenlieferungen. Die mögen ihr Gewicht haben. Das ist nicht unsere Aufgabe als Hilfsorganisation, das zu beurteilen. 

Aber der Sozialstaat in der Ukraine steht vor großen Herausforderungen. Ich nenne ein Beispiel: Wer als kriegsverletzter Soldat zurückkehrt, erhält, so wurde mir das bei meinem letzten Besuch gesagt, eine Pension von 15 Euro pro Monat. Davon kann man nicht leben. 

Oliver Müller

"Hier steht die Ukraine vor großen Herausforderungen, weil das Sozialsystem als solches eigentlich ins Wanken gerät."

Es gibt eine wachsende Zahl von Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind. Gleichzeitig ist das Budget, das für Sozialausgaben im ukrainischen Haushalt bedeutend abgesunken, was natürlich mit dem Anstieg des Verteidigungsetats zu tun hat. 

Ukrainische Freiwillige der Territorialverteidigung und ein Soldat hissen die ukrainische Nationalflagge am 7. März 2022 in Odessa (Ukraine). / © Francesca Volpi (KNA)
Ukrainische Freiwillige der Territorialverteidigung und ein Soldat hissen die ukrainische Nationalflagge am 7. März 2022 in Odessa (Ukraine). / © Francesca Volpi ( KNA )

Hier steht die Ukraine vor großen Herausforderungen, weil das Sozialsystem als solches eigentlich ins Wanken gerät. Die internationalen Hilfsorganisationen können dort viel helfen. Wir leisten Hilfe für Hunderttausende von Menschen. Ähnlich machen das viele andere Organisationen. Aber das wird auf Dauer so nicht weitergehen können.

DOMRADIO.DE: Ab Samstag treffen sich Vertreter von 92 Staaten in der Schweiz. Wenn Sie denen etwas mit auf den Weg geben könnten, was würden Sie denen empfehlen?

Oliver Müller

"Es ist gut, jede einzelne Möglichkeit, die es geben mag, auszuloten."

Müller: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Schweizer Konferenz stehen vor einer schwierigen Aufgabe, zumal Russland selbst nicht vertreten ist. Auch Länder, die Russland positiv gegenüberstehen, sind überwiegend nicht vertreten. 

Ich denke, man muss abwarten, was die Konferenz bringen kann. Es ist gut, über den Frieden zu reden, und es ist gut, jede einzelne Möglichkeit, die es geben mag, auszuloten. Dabei sollte man vor allem auch das Leid der Menschen in den Blick nehmen. 

Oliver Müller

"Die internationale Solidarität muss weiterhin aufrechterhalten werden."

Es sind 6 Millionen Menschen ins Ausland geflohen, die sollten dort unterstützt werden. Damit sie nicht zurückmüssen in Verhältnisse, in denen sie nicht leben können. Auch die internationale Solidarität muss weiterhin aufrechterhalten werden. 

Wir machen uns als Hilfsorganisation Sorge, dass nach einer Welle der großen Solidarität, wie wir sie nach dem Kriegsausbruch haben, dieser Konflikt in der Ukraine irgendwann weiter in den Hintergrund gerückt wird. 

Die Welt gewöhnt sich daran, dass dort Krieg ist, dass dort Menschen vertrieben werden und sterben. Das darf nicht so sein. Die Konferenz in der Schweiz kann, was auch immer sie bringen wird, zumindest was die Aufmerksamkeit betrifft, einen Beitrag leisten.

Das Interview führte Florian Helbig.

Caritas international

Caritas International arbeitet eng mit den weltweit 165 nationalen Caritas-Organisationen zusammen. Von seinem Hauptsitz in Freiburg aus unterstützt das katholische Hilfswerk jährlich etwa 1.000 Hilfsprojekte in aller Welt. In den Projekten gewährleisten die Kompetenz und das Engagement der einheimischen Caritas-Mitarbeiter den dauerhaften Erfolg vor Ort.

Die Caritas gibt es in über 160 Ländern / © Karolis Kavolelis (shutterstock)
Die Caritas gibt es in über 160 Ländern / © Karolis Kavolelis ( shutterstock )
Quelle:
DR