DOMRADIO.DE: Der Koalitionsvertrag liegt nun vor. Was hat Sie darin besonders gefreut und welcher Punkt hat Sie am meisten geärgert?

Eva-Maria Welskop-Deffaa (Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes): Zunächst einmal hat mich gefreut, dass die Koalitionäre sich ernsthaft um eine schnelle Regierungsbildung nach einem harten Wahlkampf bemühen. Wir brauchen dringend eine handlungsfähige Regierung, weil wir nach wie vor unter den Bedingungen der vorläufigen Haushaltsführung wirtschaften. Auch die internationale Lage braucht eine handlungsfähige Regierung. Es geht den Koalitionären um äußere und innere Sicherheit und – so lese ich viele Passagen des Vertrages – auch um soziale Sicherheit. Hoffen wir, dass am Ende die sozial-innovativen Vorhaben nicht dem Finanzierungsvorbehalt, unter dem alle Maßnahmen des Papiers stehen, zum Opfer fallen.
Der Koalitionsvertrag will offenkundig die großen Verunsicherungen in der Bevölkerung mit dem Versprechen erfolgreichen Regierungshandelns beantworten. Krisenresilienz braucht Zukunftsmut, und der drückt sich z.B. in Investitionen in digitale und in Verkehrsinfrastruktur aus. Krisenresilienz braucht in Anbetracht der multiplen Problemlagen aber auch eine tragfähige soziale Infrastruktur und ein vertrauensvolles Zusammenwirken von Staat und Zivilgesellschaft, von Bund, Ländern und Kommunen. Wir werden von unserer Seite alles tun, um diese Zusammenarbeit zu pflegen und unsere Türen offenzuhalten.
Die Gestaltung eines "neuen Wehrdienstes", der die Freiwilligendienste von Anfang an mitdenkt, oder eine Pflegereform, die pflegende Angehörige entlastet und soziale Netze gestaltet, kann nicht ohne Beteiligung der Zivilgesellschaft, namentlich der Wohlfahrtsverbände, gelingen.
DOMRADIO.DE: Wird die im Koalitionsvertrag angedeutete Politik dazu beitragen, Armut, soziale Missstände und Wohnungsnot in Deutschland zu bekämpfen?
Welskop-Deffaa: Ich bin froh, dass Vorhaben, welche die Ampel in Angriff genommen, aber nicht zu Ende gebracht hat, wieder auf die Agenda gesetzt werden. Der 7. Armuts- und Reichtumsbericht soll das Licht der Welt erblicken. Die Arbeit am Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit soll weitergeführt werden.
Nun kann man sagen: Papier ist geduldig – schon im letzten Koalitionsvertrag wurde engagiertes Vorgehen gegen Kinderarmut und Wohnungsmangel angekündigt. Und man hat gesehen, wie schnell man bei der Umsetzung einer Kindergrundsicherung oder eines Wohngeldgesetzes ins Gestrüpp schlechter Gesetzgebung geraten kann. Daher steckt in vielen Ansätzen des Koalitionsvertrags – Bürokratieabbau, Staatsreform, Vereinfachung von Verfahren… - ein großes Versprechen gerade für die vulnerablen Bevölkerungsgruppen. Sie sind auf einfache praktikable Regelungen doppelt angewiesen. Wer für den Kinderzuschlag, das Wohngeld und BaföG immer wieder die gleichen Daten in komplizierte Formulare eingeben muss, wird müde und frustriert.

Das once-only-Prinzip ist daher ebenso ein soziales Versprechen wie die Wiedereinführung der Sprach-Kitas. Das Signal, das Familienministerium um die Bildungskompetenzen zu erweitern, geht in die richtige Richtung. Armutsrisiken müssen durch Befähigungsanstrengungen gemildert werden, Familie und Schule müssen Hand in Hand arbeiten. Eine verlässliche Kinderbetreuung ist unerlässlich für die Erwerbstätigkeit der Eltern und die Zukunftschancen von Kindern aus belasteten Familien.
Erleichtert bin ich, dass die Beschreibung von notwendiger Armutsbekämpfung im Koalitionsvertrag nicht an nationalen Grenzen endet. In Kapitel 5 gibt es das – leider nicht mehr selbstverständliche – Bekenntnis für die weltweite Bekämpfung von Armut, Hunger und Ungleichheit.
Ob die Klimapolitik, die im Koalitionsvertrag skizziert wird, wirklich als Klimasozialpolitik gedacht wird, muss sich noch beweisen. Wir werden das Gespräch mit dem neuen Klima- und Umweltministerium zeitnah suchen.
DOMRADIO.DE: Wie beurteilen Sie den Koalitionsvertrag mit Blick auf das Thema Migration, das ja den Wahlkampf beherrscht hat?
Welskop-Deffaa: Leider wurden gerade in den letzten Wochen des Wahlkampfes negative Entwicklungen und soziale Probleme vor allem mit dem Thema Migration verknüpft, was die Gesellschaft verunsichert hat und in aggressive Stimmung gegen Menschen mit Migrationshintergrund umgeschwungen ist.
Insofern bin ich zunächst einmal froh, dass sich im Koalitionsvertrag auch in diesem Bereich ein klares Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit findet und ich hoffe, dass das künftige Regierungshandeln der Verrohung der Sprache an dieser Stelle entgegenwirkt. Positiv ist auch, dass die Fachkräftezuwanderung, u.a. durch die Beschleunigung und Digitalisierung bei Anerkennungsverfahren erleichtert und Integrationsangebote auskömmlich finanziert werden sollen.

Die Überführung von ukrainischen Geflüchteten ins Asylbewerberleistungsgesetz sehe ich hingegen ebenso wie die angekündigten Anspruchseinschränkungen im Leistungsrecht kritisch.
DOMRADIO.DE: Was fehlt Ihnen im Koalitionsvertrag?
Welskop-Deffaa: Die Herausforderungen der Demographie bleiben im Koalitionsvertrag unterbelichtet. Das zeigt sich besonders bei den Passagen zur Pflege, aber auch bei denen zur Rentenversicherung. Es fehlt ein Bekenntnis zum Ausbau der Rentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversicherung, ob und wie die Einbeziehung Selbstständiger in die gesetzliche Rentenversicherung endlich gelingen kann, bleibt ungewiss, obwohl hier eines der ganz großen Altersarmutsrisiken schlummert. Bei der Pflegeversicherung, die in höchster Finanznot ist, fehlt es an konkreten Vorschlägen.
Während in den Arbeitsgruppen-Papieren noch Maßnahmen wie Stärkung der pflegenden Angehörigen durch Leistungsbündelung und Flexibilisierung oder Reduzierung der pflegebedingten Eigenanteile zu lesen waren, werden nun viele Fragen auf die Arbeit einer Bund-Länder-Kommission verschoben. So lange kann die Pflegeversicherung, die fast pleite ist, nicht warten.
Die Fragen stellte Roland Müller.