DOMRADIO.DE: Wie ist es einzuordnen, wenn Menschen mit dem Einsatz von Gewalt protestieren? Es sind ja schon acht Menschen ums Leben gekommen.
Prof. Friedhelm Hengsbach (Jesuit und Sozialethiker): Ich denke, da muss man unterscheiden. Zum einen muss man schauen, wer eigentlich die Urheber dieser Aktion der sogenannten "Gelbwesten" gewesen sind. Das sind ja keine Gewalt ausübenden Menschen. Solche massive Blockaden, die an den Kreiseln, an den Mautstellen oder an den Zugängen zu Autobahnen stattfinden, sind an sich legitime Protestformen. Die ärgern und stören natürlich das gesamte Bild.
Aber man muss auf der anderen Seite auch sehen, dass da Defizite innerhalb des staatlichen Systems existieren und dass sich jetzt an diese "Gelbwesten"-Bewegung Gewalttäter anschließen. Das hat es auch schon in Hamburg gegeben, das hat es also auch schon in Deutschland gegeben. Immer wenn eine gewaltige Bewegung gegen staatliche und gesellschaftliche Missstände auftritt, dann kommt am Rande auch die Gewalttat hinzu.
DOMRADIO.DE: Präsident Macron ist in Frankreich auf die "Gelbwesten" bereits zugegangen. Im Moment sagen diese, dass sie über Weihnachten ruhig bleiben wollen. Aber nach Weihnachten wollen sie weiter demonstrieren, weil ihre Ziele noch nicht ganz erreicht sind. Jetzt ist die Frage der sozialen Gerechtigkeit ein Thema, das die Kirche auch angeht. Wie positioniert sich denn die Kirche in der ganzen Diskussion?
Hengsbach: Es wundert mich, dass die Kirchen in Frankreich eher außerhalb dieses "Gefechts" bleiben. Grundsätzlich kann man aus Sicht der Kirche heraus sagen, dass Macron natürlich eine Lücke mit seinem Wahlkampf und seiner Wahl gefüllt hat, nachdem die Parteien völlig erodiert waren.
Es ist aber eine eigenartige und ungute Situation, dass Macron gegenwärtig dem Volk gegenüber steht. Wo sind denn die Vermittlungsinstanzen? Wo sind die Parteien? Die treten gar nicht mehr auf - weder rechts noch links. Wo sind die Sozialpartner? Macron hat sie einmal - wie die Banken und die Bürgermeister - eingeladen. Aber das zeigt ja, dass er allein mit diesen Auseinandersetzungen gar nicht fertig wird. Es ist natürlich auch Macron zuzuschreiben, dass er gleichsam als Präsident dem Volk und jetzt auch den "Gelbwesten" gegenübersteht. Er muss reagieren, damit nicht noch Schlimmeres passiert. Und davon kommt nur stückweise eins nach dem anderen. Das hätte alles vorher mit den Zwischeninstanzen geregelt werden können.
DOMRADIO.DE: Die französischen Bischöfe rufen zur Diskussion in den Pfarreien auf. Die Menschen müssten wieder von den verhärteten Fronten runterkommen, heißt es. Ist es denn in so einer Situation, die so festgefahren ist, überhaupt möglich, in einen Dialog zu treten?
Hengsbach: Macron bietet es ja an, sobald es möglich ist. Es hängen sich auch immer wieder neue Gruppen an die Protestwelle an: die Schüler und Schülerinnen oder die Polizei, die sich benachteiligt fühlt. Der Eisenbahnerstreik ist damals total schief gelaufen. Es werden sich also mehrere Gruppierungen anmelden. Da ist es wichtig, dass Repräsentanten ernannt werden, die mit der Regierung in Verhandlungen treten können. Die traditionellen Sozialpartner, die Finanzinstitutionen und auch die Parteien sind im Augenblick nicht da. Das ist das große Manko, dem Macron ausgesetzt ist und woran er auch nicht unbeteiligt ist.
DOMRADIO.DE: Die Frage der sozialen Gerechtigkeit ist eine Frage, die uns auch in Deutschland interessiert. Sie sind seit Jahrzehnten dafür bekannt, dass Sie das Ganze auch kritisieren. Sie sagen, es brauche mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft und mehr Gerechtigkeit. Können Sie sich denn solche Proteste, die wie in Frankreich ausarten, auch bei uns vorstellen?
Hengsbach: Ich vermute, das wird hier in Deutschland eher durch die Gewerkschaften ausgetragen. Beispiele sind der Mindestlohn, der auch laufend durch die Kommission erhöht wird oder die Erzieherinnen, die erhebliche Tariferhöhungen bekommen haben. Dazu sind die Gewerkschaften Verdi, IG Metall oder in der Bauwirtschaft die Gewerkschaft "BAU" da. Und es sind die Länder da, die im föderalen System als Gegenkräfte gegen die Zentralregierung und den Bundestag entsprechende Einwände machen können und ihre regionalen und partikulären Interessen durchsetzen können. Das ist also anders als in Frankreich.
Auf der anderen Seite würde ich aber sagen, dass Deutschland eine ganz erhebliche Mitverantwortung für diese Unruhen in Frankreich hat. Man hat Macron, als er Kanzlerin Merkel sprechen wollte, abblitzen lassen. All die Reformen, die er für Europa vorgeschlagen hat, sind in Deutschland ganz kühl oder abweisend behandelt worden. Der Lohndruck nach der Finanzkrise - während es in Frankreich eine gegenteilige Entwicklung gab - hat dazu geführt, dass diese Ungleichgewichte zwischen Deutschland und Frankreich immer größer werden. Wenn Macron immer wieder darauf hingewiesen hat, hat er nur abweisende Reaktionen geerntet.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.