DOMRADIO.DE: Wie wichtig ist das, dass wir die Phänomene Antisemitismus und Rassismus noch weiter wissenschaftlich erschließen?
Friedhelm Pieper (Pfarrer und evangelischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit): Der Antisemitismus hat viele verschiedene Facetten. Ich denke als Theologe zum Beispiel an die lange Tradition des Antijudaismus in den Kirchen. Da sind wir seit vielen Jahren dabei, haben einiges erreicht. Aber wir sind noch lange nicht so weit, dass ich sagen könnte, wir haben jetzt in der ganzen Breite unserer Kirchen bis in die Kirchengemeinden hinein eine Wahrnehmung des Judentums, die ohne Vorurteile auskommt.
Also da gibt es in der Facette der kirchenbezogenen Vorurteile gegen das Judentum noch einiges zu tun. Und wir haben natürlich das Gesamtproblem, das Grundproblem, dass wir in unserer gegenwärtigen Zeit der Corona-Pandemie wieder vermehrt Verschwörungstheorien haben, die insbesondere auch durch Internet gefördert werden, in unterschiedlichsten Facetten. Es ist wichtig, das zu analysieren, das aufzudecken, darüber aufzuklären. Insofern ist Forschung hier total wichtig.
DOMRADIO.DE: Warum fließt denn in diese Verschwörungstheorien immer wieder das Judentum mit hinein?
Pieper: Das ist leider eine alte Tradition. Seit der Antike ist es ja leider immer wieder so, dass Menschen darauf verfallen, anstatt ihr eigenes Leben zu sortieren, zu ordnen und Probleme zu lösen, zu glauben, dass irgendjemand anderes – ein Feind – an den eigenen Problemen Schuld hat. Die jüdische Gemeinschaft ist eine sehr profilierte Gemeinschaft mit ihrer Bildung, mit ihrer Religiosität, mit ihrer Kultur.
Diese sehr profilierte Minderheit ist leider seit der Antike immer wieder Zielscheibe von Neid und Vorurteilen geworden, bis dahin, dass man glaubte, diese Gruppe von Menschen sei verantwortlich für die eigenen Probleme.
DOMRADIO.DE: Sie bemühen sich um eine gute Zusammenarbeit und ein gutes Zusammenleben mit Jüdinnen und Juden. Was für eine Rolle spielt bei dieser Arbeit die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus?
Pieper: Das ist eine ganz zentrale Frage, Aufgabe und Herausforderung. Seit der Gründung des Deutschen Koordinierungsrates 1949 ist das eines unserer Grundziele, weil wir ja leider feststellen müssen, dass es sozusagen eine gewisse Grundsubstanz an antisemitischen Einstellungen in der bundesdeutschen Gesellschaft gibt, die sich leider in Umfragen auch erhärtet. Das sind zwischen 15 und 25 Prozent, je nachdem, wann und wo das erhoben wird.
Das heißt, wir haben hier eine Grundaufgabe und dazu kommen natürlich dann auch noch gewisse Strömungen, das neue und intensivere Aufkommen von rechtsradikalem Gedankengut, insbesondere im Internet und jetzt im Zuge der Pandemie Demonstrationen gegen Maßnahmen der Regierung gegen die Pandemie unter Missbrauch von jüdischen Symbolen.
DOMRADIO.DE: Dass sich jüdische Männer Deutschland mit Kippa kaum aus dem Haus trauen ist ungeheuerlich in dem Land, von dem der Holocaust ausgegangen ist. Haben Sie eine persönliche Erklärung dafür, dass das derzeit so eskaliert?
Pieper: Ich bin da vorsichtig mit Erklärungen. Ich sehe die Fakten und muss leider zur Kenntnis nehmen, dass in Zeiten von größeren Verunsicherungen, von Schwierigkeiten, die Menschen leider dazu neigen, immer wieder Feindbilder zu bilden. Das ist etwas, das wir in der Geschichte der Menschheit verfolgen können, das auch jetzt wieder eine Rolle spielt.
Aber noch wichtiger ist mir, dass wir überlegen, was wir tun können, um solche Menschen aus solchen Situationen herauszuholen. Wie kann man präventiv arbeiten? Wie können wir Leute darüber aufklären, dass das Verschieben der eigenen Probleme auf andere keine Hilfe für die Entwicklung des eigenen Lebens ist?
DOMRADIO.DE: Und wie können wir das tun? Auch jeder Einzelne von uns?
Pieper: Jeder Einzelne von uns kann natürlich gucken, wo in seiner Stadt und seiner Kommune eine jüdische Gemeinde ist, was er zu einer guten Nachbarschaft beitragen kann. Es ist wichtig, dass die Kirchen öffentliche Zeichen der Verbundenheit mit der jüdischen Gemeinschaft setzen, sodass immer wieder deutlich wird: Sie gehören zu uns und wir gehören zusammen. Und das, was wir zu leben haben, ist eine gute Nachbarschaft, aber keine Verdächtigungen. Da gibt es also eine ganze Reihe Dinge, die wir machen können. Wir können natürlich im Unterricht, in den Schulen und an den Universitäten deutlich machen, welchen Wert und welchen Zusammenhalt jüdisches Leben hat, welches Profil dieses Leben hat, wie Judentum aussieht, wie die Feste aussehen, wie das Feiern aussieht.
Und es ist wichtig, natürlich auch die Erinnerungsarbeit gegen jede Versuche der Verdrängung der Verbrechen der Nazis weiter zu treiben. Zum Beispiel durch Erinnerung an den Gedenktagen, das mit Schulen zusammen zum Beispiel gut zu gestalten und derlei Sachen. Wir haben ja auch dieses interessante Projekt der Stolpersteine, dass in den Kommunen vor Ort, dort, wo Juden gelebt haben, in den Bürgersteigen kleine Steine eingesetzt werden, die an diese und jene Familie erinnern. Daraus sind schon neue Bezüge erwachsen: dass man zu den Nachfahren plötzlich Kontakt bekommen hat und es Besucher gegeben hat, hin und her zwischen den jüdischen Gemeinden oder jüdischen Nachfahren.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.