Am Tag danach ist am Frankfurter Hauptbahnhof fast alles wie sonst. Menschen laufen wild durcheinander oder hetzen zum Bahnsteig, um ihren Zug zu bekommen. Nur vor Gleis 7 bildet sich am Dienstag immer wieder ein Pulk von Menschen, die wie erstarrt stehen bleiben. Sie blicken auf eine mit schwarz-gelbem Band abgesperrte, etwa fünf mal zwei Meter große rechteckige Fläche, die mit hunderten Blumensträußen, Plüsch-Teddys, gemalten Bildern und roten Friedhofskerzen gesäumt ist. Mehrere TV-Kameras sind vor Ort.
An diesem Gleis 7 hatte am Montagvormittag gegen 9.50 Uhr ein Mann eine Mutter und deren achtjährigen Jungen vor einen einfahrenden ICE aufs Gleis gestoßen. Die 40-jährige Mutter konnte sich Polizeiangaben zufolge in letzter Sekunde retten, der Junge wurde von dem Zug erfasst und getötet. Ein 40-jähriger Eritreer wurde als Tatverdächtiger festgenommen. Der Mann kannte seine Opfer offenbar nicht. Über die Motive war am Dienstagnachmittag noch nichts bekannt.
Frankfurt "starr vor Schreck"
Die unfassbar grausame Tat lässt niemanden kalt. "Die ganze Stadt, das sommerlich-lässige Frankfurt ist erstarrt, wie ich das noch nicht erlebt habe", sagte Frankfurts katholischer Stadtdekan Johannes zu Eltz am Dienstag DOMRADIO.DE. Die betriebsame Mainmetropole sei "starr vor Schreck, Abscheu und vor Mitleid vor allem mit der Mutter, die ihr Kind neben sich hat sterben sehen".
In dem Blumenmeer ist an einen Teddy ein gelber Zettel geheftet, auf dem nur ein Wort steht: "Warum?" Außerdem findet sich ein verschlossener "Brief an die Mama des Jungen". Und dann liegt da noch ein buntes Bild, mit einem Regenbogen und einem tropfenden Herz: "Mögen die Engel mit dir sein. Gute Reise über den Regenbogen", heißt es da. Gemalt ist das Bild "von Marlon, 8 Jahre", also einem Jungen, so alt wie das Opfer des Anschlags.
Nicht jeder, der vorbeikommt, bleibt stehen. Manche hasten mit schnurgeradem Blick und ihrem Rollkoffer zum Bahnsteig 6, wo wie auf allen anderen Gleisen die Züge wie gewohnt fahren. Das gilt auch für das nun berüchtigte Gleis 7, wo gerade für 13.10 Uhr die Abfahrt des ICE 722 nach Düsseldorf angezeigt ist und die Menschen schon dicht an der Bahnsteigkante stehen.
Große Betroffenheit
Nicht alle, die vorbeigehen, wissen, was hier am Montagvormittag passiert ist. "Da ist gestern ein Kind gestorben", wird einer jungen Frau erklärt, die sich erkundigt. "Oh nein! Oh nein!", ruft sie aus.
Andere kommen ganz bewusst an diesen Ort. Ruben (37) aus der Nähe von Frankfurt hatte am Montag ein Vorstellungsgespräch bei der Bahn im Hauptbahnhof. Er habe zunächst warten müssen, weil es plötzlich eine "Krisensitzung" gegeben habe, erzählt er. Dann habe er gehört: "Der Junge ist tot." Nun sei er noch einmal in den Bahnhof gekommen, um das Geschehen besser verarbeiten zu können. Er steht in drei Metern Abstand minutenlang still vor den Blumen, in sich gekehrt. So wie Hunderte Menschen an diesem Nachmittag. Auffallend wenige machen Handy-Fotos von der Trauerstätte. Das Aushalten der brutalen Wirklichkeit siegt offenbar für kurze Zeit über die Flucht ins Digitale.
Die Betroffenheit der Menschen sei unglaublich groß, sagt auch der Leiter der Bahnhofsmission, Carsten Baumann. Er ist einer der Redner auf der für Dienstagabend angekündigten ökumenischen Andacht auf dem Bahnhofsvorplatz, ebenso wie Pfarrerin Jutta Jekel von der evangelischen Hoffnungsgemeinde in Frankfurt.
Nein zu fremdenfeindlicher Hetze
Jekel sagte der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), sie werde mit Hilfe des biblischen Psalms 22 versuchen, "das Entsetzen vor dieser grauenvollen Tat und der grauenvollen Erfahrung, die die Angehörigen, die Zeugen der Tat und Mitarbeiter der Bahn gemacht haben, auszudrücken". Der Psalm 22 beginnt mit den Worten "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Jekel will auch deutlich machen, dass die mutmaßlich von einem Ausländer begangene Tat nicht missbraucht werden dürfe für fremdenfeindliche Hetze.
Auch zu Eltz sagt: "Wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass diese Tat nicht zu einer allgemeinen Abscheu gegen Migranten führt." Er habe als erstes die Verantwortlichen der katholischen-eritreischen Gemeinde angerufen und zur Trauerfeier am Bahnhof eingeladen. "Wenn sie Angst haben, dann werde ich ihnen die Hand halten und mit ihnen zusammenstehen", versicherte der Geistliche.