DOMRADIO.DE: Sie beobachten die Entwicklungen auf Kuba schon seit langem: Was ist das Erbe der Brüder Castro an Kuba?
Michael Huhn (Referent beim katholischen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat): Das Erbe, das sie hinterlassen, ist eine Klassengesellschaft – was kurios ist, weil Kuba sich als kommunistische Gesellschaft bezeichnet. Aber es gibt die Klasse derer, die in der Parteispitze sind und ihre Privilegien genießen und die Anderen. Es gibt diejenigen, die Verbindungen in die USA haben und die Anderen. Und jetzt steht Kuba an einem Punkt, an dem man versucht, zumindest den marxistischen Anspruch vergessen zu machen.
Raúl Castro war ja ein schlechter Marxist. Marx hat gesagt: "Das Sein bestimmt das Bewusstsein". Aber mit dem Sein ging es ja mächtig bergab: Knappheit an Lebensmitteln und eine schlechte Gesundheitsversorgung bestimmen den Alltag der Menschen, immer begleitet von Appellen zur Bewusstseinsveränderung: Die Leute sollten doch bitte etwas weniger grob sein und etwas revolutionärer. Und davon haben die Kubaner die Nase voll.
DOMRADIO.DE: Mit Raúl Castro ist die alte Garde abgetreten. Aber Präsident Miguel Diaz Canel - schon länger im Amt und jetzt zusätzlich Parteichef - ist auch schon über 60 und gilt als wenig charismatischer Technokrat. Hat er das Zeug dazu, die junge Generation mitzunehmen?
Huhn: Er bemüht sich. Indem er jetzt den in gewisser Weise ersten Marx-freien Parteitag abgehalten hat: man hatte die Bilder von Marx, Engels und Lenin abgehängt, die Begriffe Marxismus und Leninismus kamen nicht mehr vor. Trotzdem bleibt ein Generationenkonflikt. Auch Diaz Canel sagt: "Die Parte gibt die Richtung vor!" Aber die jungen Leute haben nicht dieselbe Angewohnheit zu gehorchen wie die älteren. Und sie haben auch nicht die Lust dazu. Die alte Garde hat immer gesagt, wo es lang geht. Aber jetzt steht eine Jugend da, die ihren eigenen Weg suchen und gehen will.
DOMRADIO.DE: Schauen wir auf die katholische Kirche. Welche Rolle hat sie in den vergangenen Jahren gehabt?
Huhn: Die katholische Kirche stand nicht in der ersten Reihe des öffentlichen Protestes. Es gab und gibt keine kirchliche Persönlichkeit wie zum Beispiel einst Oscar Romero in El Salvador, der sonntags in der Kathedrale die Namen der Verschwundenen und der Verhafteten vorlas. Die katholische Kirche ist eher ein Ort, an dem diejenigen zusammen kommen, die – wie Ernesto Cardenal in Nicaragua es einmal ausgedrückt hat – "die Parolen der Partei nicht mehr hören wollen".
Und, was ganz wichtig ist, die Kirche ist auch der repräsentative Ort der Barmherzigkeit. Und zwar durch ihre Caritas, durch ihre Fürsorge für alle die, die in der angeblich klassenlosen Gesellschaft hinten anstehen, vor allem die alten Menschen. Denn das ist in Kuba ein großes Problem. Kuba ist das Land Lateinamerikas mit dem höchsten Anteil alter Menschen.
DOMRADIO.DE: Könnte das Ende der Ära Castro für die Katholiken im Land einen Perspektivwechsel mit sich bringen?
Huhn: Das vermag ich nur schwer zu sagen. Es wird in großem Maß davon abhängen, ob Diaz Canel es vollbringt, das Land etwas zu öffnen. Dann würden auch die Spielräume der Katholiken größer werden. Aber selbst wenn das nicht geschieht:
Die Kirche wird ihren Dienst weiter tun. Ganz wichtig ist ja, dass zum Beispiel in von Adveniat unterstützten Projekte Leute etwa als Katecheten lernen, sich vor andere hinzustellen und ihre Meinung zu sagen. Das gibt Selbstbewusstsein. Das ist auf jeden Fall ein Pfund, das die katholische Kirche vor Ort hat und dass sie der kubanischen Gesellschaft weiter schenken wird.
Das Interview führte Carsten Döpp