DOMRADIO.DE: Die Union und vor allem die SPD haben bei der Europawahl drastisch verloren. Lag es nur daran, dass sie auf die falschen Themen gesetzt haben?
Dr. Andreas Püttmann (katholischer Publizist): Jein. Zunächst: Es entscheiden nicht nur Themen, sondern auch Antworten auf Themenfragen. Mir wird in der öffentlichen Debatte zu sehr ausgeblendet, dass man auch Wähler durch Antworten verlieren kann, mit denen man andere gewinnen könnte. Zum Beispiel drohte die Union Teile ihrer Wählerschaft in der Wirtschaft, bei Liberalen und auch bei Konservativen zu verlieren, wenn sie sich beim Klimathema den Grünen annähert. Ich will gar nicht inhaltlich dagegenreden. Aber etwas mehr Klimasensibilität bei der Union muss noch lange nicht heißen, dass man damit Grünen-Wähler für sich gewinnt. Denn wo nur ein Thema herausragend motiviert, wählen Menschen heute lieber das Original als eine abgeschwächte Kopie. Das hat die CSU zum Beispiel bei der Migrationspolitik erfahren müssen.
Es kommen noch weitere Faktoren dazu, wie etwa, dass das christliche Kernmilieu der Union schwindet. Außerdem hat es das Vermittelnde und Abwägende einer Volkspartei heute schwerer gegenüber der klaren Kante kleinerer Parteien. Das hat auch mit unserer Revolution der Kommunikation zu tun, wo es heute oft nur noch Daumen rauf oder Daumen runter gibt. Dort greift eine gewisse Oberflächlichkeit der Betrachtung. Emotionen und Wut siegen über Rationalität und geistige Anstrengung.
Gleichzeitig gibt es einen Verlust der Demut, also der Überlegung, dass es die Politiker vielleicht doch etwas besser wissen könnten. Das war früher stärker ausgeprägt. Heute sagen 40 Prozent: "Das könnte ich besser als die, denke ich oft." Es kommen also viele kulturelle Faktoren zur Erklärung der Parteienentwicklung hinzu.
Bei der SPD muss man sagen, dass sie neben den Nichtwählern an alle Parteien außer der FDP verlieren kann. Die Union hat da eine Partei weniger. Da sind die Wählerstimmen entweder an die AfD gegangen, ein bisschen auch an die FDP oder jetzt stärker an die Grünen. SPD und Linkspartei sind für sie kaum eine Konkurrenz. Die SPD ist in einer besonderen Bredouille.
DOMRADIO.DE: An den Grünen kommt man im Moment nicht richtig vorbei. Der Klimaschutz ist das Thema. Wie nachhaltig kann denn dieser Erfolg sein?
Püttmann: Die Grünen profitieren wie alle Oppositionsparteien davon, dass man die Probe aufs Exempel noch nicht machen kann. Man weiß nicht, wie sich ihre Ideen umsetzen lassen, ohne zu große Widerstände in der Gesellschaft zu provozieren oder nachteilige Nebenwirkungen auszulösen.
Und sie sind jetzt seit 14 Jahren in der Opposition. Ich erinnere nur daran, dass die FDP 2009 elf Jahre in der Opposition war, als sie ihr überragendes Ergebnis von 14 Prozent holte. Und jetzt erinnern wir uns, wie schnell innerhalb weniger Monate der Aufzug wieder heruntergefahren ist.
Das muss bei den Grünen nicht so krass passieren, weil sie mit der Klimakrise wirklich ein bleibendes hochrelevantes Thema haben. Aber sie könnten zum Beispiel, wenn sie regieren, relativ schnell wieder auf zehn Prozent fallen, auch weil sie durch die Kompromisse, die sie notwendigerweise schließen müssten, wieder Wähler enttäuschen würden.
DOMRADIO.DE: Aber mal abgesehen davon, wie lange sie sich halten: Ist dieser Erfolg der Grünen nicht auch eine Ermutigung an die Jugend, die hauptsächlich grün gewählt hat, dass sie ein politisches Gewicht haben? Die "Fridays for Future"-Bewegung soll einen maßgeblichen Anteil an dieser grünen Stimmung haben.
Püttmann: Das ist sicherlich einer der positiven Effekte des Wahlergebnisses. Es reicht natürlich nicht zu demonstrieren und Klicks bei Youtube abzugeben. Es wäre schöner und nötiger, dass sich junge Leute auch mehr in Parteien engagieren und jahrelang mitarbeiten. Die demokratische Euphorie muss ich insofern nicht unbedingt teilen, aber ich freue mich, dass zumindest mal ein Thema da ist, wo es ein stärkeres Engagement junger Leute gibt. Und es ist sicher ein positiver Effekt, wenn sie durch ein offenkundiges Wirken ihres Wahlverhaltens eine Ermutigung und einen Bezug zur Demokratie gewinnen.
DOMRADIO.DE: Die Wahlbeteiligung bei der Europawahl ist erfreulich – teilweise ist sie um zehn Prozent gestiegen. Ist damit die Demokratie europaweit nachhaltig gestärkt?
Püttmann: Hohe Wahlbeteiligung ist tendenziell positiv, weil sie die Legitimität eines Systems stärken kann. Im Ergebnis ist sie allerdings nicht immer demokratiestärkend. Monomanische Massenaufgeregtheiten zu einem bestimmten Thema oder einem bestimmten Feindbild können auch nachhaltig zur Schwächung der Demokratie führen. Dann erfolgt die Mobilisierung zugunsten problematischer Parteien oder Richtungen.
Ich erinnere nur daran, dass die AfD und auch schon die NSDAP ihre Wähler sehr stark unter den Nichtwählern rekrutiert haben. Helmut Kohl hat einmal gesagt: "Entscheidend ist, was hinten dabei herauskommt", und zu dieser Einstellung neige ich auch. Wichtiger als die Anzahl der wählenden Bürger ist in jedem Fall, dass viele informierte und verantwortungsbewusste Bürger wählen.
DOMRADIO.DE: Es gibt Stimmen, die sagen, der Rechtsruck in Europa sei gestoppt. In Italien, Frankreich und auch Großbritannien haben populistische Kräfte aber stark zugelegt. Wie rechts ist denn jetzt dieser Ruck tatsächlich?
Püttmann: Der Rechtsruck ist weniger krass ausgefallen, als man sich das vorgestellt hat. Die rechtskonservativen, rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien, also die rechts von der Volkspartei, sind von 20 auf 23 Prozent relativ bescheiden gewachsen. Allerdings gibt es gleichzeitig im linken Spektrum eine Bewegung von den linksradikalen und den sozialdemokratischen Parteien hin zur Mitte, sodass wir insgesamt eine Verschiebung nach rechts sehen können.
Es kommt aber auch darauf an, durch welche großen Länder rechte Kräfte auch im Europäischen Rat eine führende Rolle spielen. Und dass wir hier in Frankreich, in Italien oder auch Polen siegreiche rechtspopulistische Kräfte haben, ist schon sehr beunruhigend. Der Rechtsruck ist nicht abgeblasen, er ist nur weniger stark eingetreten. Demokraten dürfen jetzt nicht zu genügsam sein. Das Ergebnis muss uns beunruhigen.
Das Interview führte Heike Sicconi.