Himmelklar: Wo erwischen wir Sie gerade?
Katrin Göring-Eckardt (Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag): Ich bin in meinem Büro in Berlin-Mitte. Wir haben Sitzungswoche des deutschen Bundestages mit all dem, was wir gerade zu bereden haben. Die "normale" Politik, was den Haushalt angeht, und all die Fragen, die sich um die Zukunft drehen, bis hin zur Klimakrise. Aber natürlich auch die aktuellen Themen, die mit der Corona-Pandemie zu tun haben. Berlin-Mitte wurde gerade als Risikogebiet identifiziert. Und deswegen macht das die Arbeit nicht gerade leichter.
Himmelklar: Gerade auch im Bundestag, wo es ab jetzt auch eine offizielle Maskenpflicht gibt.
Göring-Eckardt: Genau. Das ist auch gut so. Natürlich habe ich mich selbst schon seit geraumer Zeit - im Grunde genommen schon seit den ersten Sitzungen nach dem Lockdown - daran gehalten. Aber wir haben leider Kollegen, muss man sagen, vor allen Dingen aus der AfD, die ganz bewusst protestieren wollten gegen die Aufforderung, die freundliche Aufforderung, Masken zu tragen. Und deswegen gab es jetzt keine andere Möglichkeit mehr, wenn wir namentlich abstimmen oder eng aneinander vorbei müssen. Dann können wir nicht riskieren, dass jemand unbedingt zeigen möchte, dass es anders geht, und sich dann viele Leute anstecken.
Himmelklar: Nehmen Sie uns mal mit in den Bundestag. Wie schwierig ist es da, Abstand zu halten, oder wie sind die Abläufe im Moment?
Göring-Eckardt: Wir können schon im Plenarsaal Abstand halten. Die Räume, die der Bundestag oder auch die unsere Fraktion zu verantworten hat, sind alle so eingerichtet, dass man Abstand halten kann. Bei meinem Team ist es so, dass sich die MitarbeiterInnen abwechseln, die in Doppelbüros sitzen, sodass da immer nur einer sitzt und die andere zu Hause arbeitet oder umgekehrt.
Aber natürlich gibt's Situationen, wenn zwei Leute durch eine Tür müssen, dann ist das mit dem Abstand dann plötzlich ganz schnell nicht mehr so einfach. Wir haben Hammelsprung gehabt. Das ist ja so, dass, wenn die Abstimmungsverhältnisse unklar sind im Bundestag, dann müssen alle, die verfügbar sind, kommen. Und dann sind dann plötzlich doch alle da und nicht nur die Hälfte oder ein Drittel der Abgeordneten-KollegInnen.
Himmelklar: Da gibt's auch keine Möglichkeit, sowas digital zu machen?
Göring-Eckardt: Das kann man nicht digital machen. Noch nicht. Das ist auch gut so. Ich glaube, das ist schon richtig, dass wir anwesend sein müssen und nicht von zuhause aus mal eben irgendwie auf eine Taste drücken. Das ist gut und richtig so. Und gleichzeitig muss man halt auch da versuchen, alles zu tun, um die Abstimmung so hinzukriegen, dass man sich eben nicht gegenseitig gefährdet. Vieles ist auch geändert. Zum Beispiel, dass man namentliche Abstimmung nicht auf einen Ritt macht, sondern dass eine Zeitspanne da ist, in der man abstimmen gehen kann. Und dann geht es halt leichter.
Himmelklar: Gottesdienste sind schwierig im Moment. Ich habe gelesen, anstelle von in den Gottesdienst zu gehen, in der Corona-Zeit, schlagen Sie vor, einfach mal "Großer Gott, wir loben dich" unter der Dusche zu singen. Machen Sie das noch?
Göring-Eckardt: Am letzten Sonntag bin ich wirklich in ein Dilemma geraten, weil es Erntedank-Sonntag war. Ich liebe diese Lieder so wahnsinnig und saß so da und dachte: Was machst du jetzt? Gehst du jetzt in den Gottesdienst und kannst maximal unter der Maske summen? Oder bleibst du zuhause? Nimmst den Fernseh- oder Radio-Gottesdienst und kannst laut mitsingen? Ich habe mich für Mitsingen entschieden, war aber auch schon in relativ vielen Gottesdiensten, seit das wieder geht, weil mir beides total wichtig ist. Auf der einen Seite nicht ohne Gemeinde zu feiern, und auf der anderen Seite das mit dem Singen. Das ist irgendwie total in mir drin. Der Vorteil ist: Zuhause kann ich auch falsch singen, ohne, dass es jemanden stört.
Himmelklar: Aber es ist halt alles nichts Halbes und nichts Ganzes. Wir können wieder in den Gottesdienst gehen, aber so wirklich diese Gemeinschaftserfahrung, das Singen sprechen Sie schon an. Es ist halt nicht so, wie es vorher gewesen ist.
Göring-Eckardt: Ja, es ist nicht so wie vorher. Aber ich meine, die ChristInnen haben in ihrer langen Geschichte immer wieder gemerkt, dass es nicht wie vorher ist. Vielleicht lernen wir jetzt ganz andere Sachen kennen. Wir haben großartige Musik in den Gottesdiensten. Ich war ja am 3. Oktober in einem Gottesdienst bei den Feierlichkeiten in Potsdam und war auch ganz begeistert davon, was für großartige Musik wir dort hatten. Natürlich auch Lieder, die nicht mitgesungen werden konnten und die dann ein Top-Chor für uns gesungen hat. Wir lernen vielleicht auch anderes kennen, aber dieses "selbst gern singen wollen" ist schon da.
Himmelklar: Jetzt gibt's ja auch verschiedene Stimmen aus Kirche und auch aus der Politik, die sagen, eigentlich hätte sich die Kirche anders verhalten sollen. Eigentlich hätte die Kirche kreativer auf Leute zugehen sollen in dieser Zeit. Wie sehen Sie das? Sind Sie zufrieden mit dem, was da so passiert ist in den letzten sechs Monaten?
Göring-Eckardt: Ich wäre ja nicht evangelisch, wenn ich zufrieden wäre.(Lacht) Natürlich kann man sich alles Mögliche vorstellen, was mehr hätte passieren können. Ich habe von vielen Pfarrerinnen und Pfarrern inzwischen gehört, die eben auch in dieses Dilemma geraten sind. Auf der einen Seite zu wissen: Da sitzt die Frau im Pflegeheim und wartet auf den Besuch der Pfarrerin. Und auf der anderen Seite zu wissen: Ich kann ja jetzt nicht hin. Ich habe keine Schutzkleidung und gefährde womöglich andere - vielleicht die alte Dame, vielleicht die Pflegekraft. Wen auch immer, diese Dilemmata auszuhalten ist wahnsinnig schwierig gewesen. Aber Sie haben ja nach "die Kirche" gefragt. Was immer jetzt damit genau gemeint ist: Mein Erleben ist, dass ganz viele sehr kreativ gewesen sind und sich wirklich gekümmert haben. Von Telefonkarten über Zaungespräche. Manche haben Briefe geschrieben und haben die zu den Leuten hingebracht. Wir wissen davon, glaube ich, nicht wirklich viel, was es an Kreativität alles gegeben hat, weil alle die bei Kirche, auch bei Diakonie und Caritas gearbeitet haben, haben viel damit zu tun gehabt, es zu machen und übrigens auch mit ihrer eigenen Unsicherheit umzugehen. Was kann ich tun, was nicht? Was kann ich den Leuten eigentlich gerade für einen Trost sagen oder für eine Hoffnung spenden, wenn ich doch selber nicht so genau weiß, was als nächstes passiert, weil wir dieses Virus alle nicht kennen? Wir PolitikerInnen nicht, aber natürlich auch Leute in der Kirche nicht. Und ich glaube, was gutgetan hätte wäre, mehr über dieses Dilemma zu reden. Das wäre sicherlich schlau gewesen, das weiß man hinterher sowieso immer alles besser. Aber dass ich jetzt sagen könnte, da ist nicht genug passiert - es passiert ja nie genug - aber es ist trotzdem viel passiert, viel, viel mehr, als wir wissen, als wir denken. Was, glaube ich, gut gewesen wäre, wenn Bischöfe, Bischöfinnen noch viel lauter gesagt hätten: Wir sind gerade in einer schwierigen Situation. Wir sind gerade in einem Dilemma. Und die haben halt auch alle ihren Job gemacht und haben versucht, es so gut wie möglich zu machen, und haben damit auch sehr viel Zeit verbracht.
Himmelklar: Ich höre da auch so ein bisschen raus: Weniger mosern, sondern ein bisschen mehr machen, positiv sehen und anpacken.
Göring-Eckardt: Ja, und gerade das Anpacken haben ja viele getan. Und jetzt können sich andere, die es nicht gemacht haben, sicherlich auch gut darüber erheben und sagen, wir hätten es noch besser gemacht, wir hätten noch eine bessere Idee gehabt, auch gut. Und dann sollen wir gerne über bessere Ideen streiten. Das mit dem Virus wird ja noch nicht so schnell vorbei sein. Und mal so eine Krisen-Erfahrung zu haben und zu wissen, wir sind übrigens trotzdem da. Wir sind trotzdem beieinander, wir reden trotzdem in unserer Kirche - in der evangelischen, genau wie in der katholischen - über Kirchenreform und so weiter. Es ist ja auch alles trotzdem noch da.
Himmelklar: Kirchenreform ist weiter ein großes Thema, sie sagen es. Wir haben katholisch unseren Reformprozess, den Synodalen Weg. Papst Franziskus hat gerade am Wochenende die neue Sozialenzyklika "Fratelli tutti" herausgebracht. Dieses soziale Engagement, die Tonalität, was vom Papst kommt, geht das in die richtige Richtung?
Göring-Eckardt: Ich glaube, dass es vollkommen richtig ist, die soziale, die menschenrechtliche Frage als Aufgabe von Christinnen und Christen in den Mittelpunkt zu rücken. Und gleichzeitig - das steht ja auch gar nicht in Frage - gleichzeitig glaube ich, dass wir als Christinnen und Christen noch eine andere Aufgabe haben, nämlich tatsächlich aus unserer Kraft heraus über das Unverfügbare, über den Trost und über die Hoffnung zu reden. Und beides gehört für mich zusammen. Dass jede und jeder weiß: Ja, das sind die, die haben ein bisschen mehr Kraft, weil sie noch von woanders her Kraft bekommen, als nur aus sich selbst heraus. Und an die kann man sich wenden, kann man sich auch halten. Und ich finde, das ist ein ganz, ganz besonderer Dienst, den wir leisten können. Und gleichzeitig bin ich sehr froh, dass sich viele Christinnen und Christen engagieren für ihre Nachbarinnen, für die Seenotrettung, für Menschen, die keine und keiner mehr sieht, weil sie selber keine Sprache mehr haben. Das ist gut, und das ist richtig so. Und dass sie sich auch für die Schöpfung engagieren, das gehört ja auch dazu und das ist ja etwas, was Papst Franziskus immer wieder in den Mittelpunkt gerückt hat. Aber auch viele Protestantinnen und Protestanten, die politisch aktiv sind oder eben auch als Bischöfinnen und Bischöfe, als Pfarrerin, Pfarrer oder als einfache Arbeiter im Weinberg des Herrn unterwegs sind.
Himmelklar: Da sind wir schon fast wieder in der Politik. Schöpfungsbewahrung, politisch ausgedrückt Umweltschutz, das Engagement für die Flüchtlinge, die vergessen werden. Sie waren gerade in Moria. Wie groß ist denn das Problem, dass so etwas alles nicht unter den Tisch fällt, wenn politisch alle nur noch über Corona-Beschränkungen reden?
Göring-Eckardt: Das Problem ist nicht Corona, sondern das Problem ist, dass sich in den letzten Jahren viel zu wenige um die Geflüchteten tatsächlich gekümmert haben. Moria war ja auch vor Corona kein guter Ort, und es ist auch vor dem Brand ganz furchtbar gewesen. Wir reden ja auch über Moria, nur als ein Lager, was für viele andere steht. Was für Lager steht in Europa, was für Lager steht in Libyen, was für viele ungesehene, unbekannte Lager steht, für Fluchtwege, die wahnsinnig dramatisch sind. Wir reden zum Glück über Seenotrettung, und zum Glück hat United4Rescue mit Unterstützung von vielen Menschen, die sich in Kirche und außerhalb engagieren, ein weiteres Rettungsschiff zur Verfügung gestellt, wo ich eigentlich sage: Mein Gott, das ist normalerweise eine politische Aufgabe. Aber wie gut, dass die Zivilgesellschaft, das Christinnen und Christen das übernehmen. Diese Schwierigkeit, die haben wir sowieso. Und die Corona-Pandemie zeigt uns auf der anderen Seite, aber wie entschlossen man in vielerlei Hinsicht bei so einer Frage, die ja auch existenziell ist, plötzlich sein kann. Und das ist eher etwas, was mir sehr zu denken gibt. Bei der Klimakrise gibt es diese Entschlossenheit nicht. Da gibt es noch nicht einmal die Entschlossenheit, das einzuhalten, was die Weltgemeinschaft mit dem Pariser Abkommen verabredet hat, und bei dem Umgang mit Geflüchteten, die nun wirklich nicht mehr viel haben, haben wir eine große Angst, dass es vielleicht zu viele sein könnten, die zu uns kommen. Familiennachzug. Da sind letztes Jahr um diese Zeit 4.000 Familienangehörige gekommen. In diesem Jahr waren es etwas über 200, erschwert durch die Corona-Pandemie - und schon die Viertausenderzahl ist marginal, und 200 heißt, dass Tausende von Menschen von ihren Familien getrennt in Lagern sind. Da sind Minderjährige in Deutschland, und eine Familie ist immer noch in einem Geflüchteten-Lager. Die können nicht ihre Geschwisterkinder mitnehmen. Das heißt, die Familie muss sich nochmal trennen, um irgendwie dem einen Kind in Sicherheit zu helfen und das andere nicht allein zu lassen. Wenn man solche Dinge vor Augen hat, dann weiß man, da haben wir noch sehr, sehr viel zu tun, mit und ohne Corona.
Himmelklar: Was bringt Ihnen Hoffnung, jetzt in der Zeit?
Göring-Eckardt: Das Fenster zum Himmel ist halt immer auf, und die Tür zur Welt auch. Und beides zusammen ist für mich einfach großartig. Man kann es auch mit Römer 8 sagen: "Nichts kann mich trennen von der Liebe Gottes. Ob das Engel, Mächte, Gewalten sind, Gegenwärtiges, noch Zukünftiges, Hohes, noch Tiefes." Das ist schon eine Versicherung, eine Sicherheit, mit der ich ganz froh bin, leben zu dürfen.
Das Gespräch führte Renardo Schlegelmilch.
Das Interview ist Teil des Podcasts Himmelklar – ein überdiözesanes Podcast-Projekt koordiniert von der MD GmbH in Zusammenarbeit mit katholisch.de und DOMRADIO.DE. Unterstützt vom Katholischen Medienhaus in Bonn und der APG mbH. Moderiert von Renardo Schlegelmilch und Katharina Geiger.