Die Stimme wurde zum Instrument des Jahres 2025 gekürt

"Sie steht für das Recht, gehört zu werden"

Jeder hat sie, und sie ist individueller Ausdruck der Persönlichkeit – die Stimme. Im kommenden Jahr wird sie nochmals mehr in den Fokus rücken. Zu Recht, findet Martin Meyer, der schon von Amts wegen ein Loblied auf die Stimme singt.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Ohne Stimme gibt es kein Leben, ist Kirchenmusiker Martin Meyer überzeugt / © Beatrice Tomasetti (DR)
Ohne Stimme gibt es kein Leben, ist Kirchenmusiker Martin Meyer überzeugt / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Die Stimme als Instrument des Jahres 2025 – klingt diese Wahl nicht wie Musik in Ihren Ohren? Was macht die menschliche Stimme so bedeutsam?

Martin Meyer hat die Arbeit mit der Stimme zum Beruf gemacht / © Beatrice Tomasetti (DR)
Martin Meyer hat die Arbeit mit der Stimme zum Beruf gemacht / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Martin Meyer (Kirchenmusiker und Chorleiter): Sie ist unbestritten ein tolles Instrument, das sich von allen anderen Instrumenten insofern unterscheidet, als sie über ein mehrdimensionales Spektrum verfügt und sowohl sprechen als auch tönen kann. Denn sie ist ein Klangwerkzeug für Kommunikation, aber auch ein Fenster zur Seele. Das heißt, sie hat nicht nur eine akustisch-physikalische Dimension, sondern auch eine enorme Bandbreite an emotionalen Mitteilungsmöglichkeiten. Während die Anwendung der meisten anderen Instrumente doch so etwas wie einen letzten Rest an Distanz aufweist – die Geige oder auch die Querflöte wird eine Armlänge entfernt gehalten, auch das Klavier steht immer auf Abstand – gilt das für die Stimme nicht, weil sie jedem persönlich "eingebaut" ist.

Im Grunde ist jeder Ton und jedes Wort, das jemand von sich gibt, eine so individuelle Signatur wie ein Fingerabdruck. Nicht umsonst gehört die Stimme in der Erforschung Künstlicher Intelligenz zu den ganz drängenden Themen – dazu gibt es ganze Arbeitsgruppen – um hier möglichst bald möglichst gute Ergebnisse zu schaffen. Denn computergenerierte Stimmen sind ja – das hören wir deutlich beim Navi – nicht authentisch. Es gibt aber in der KI den großen Wunsch, sie Menschen ähnlich hinzubekommen.

Und noch ein Aspekt macht die Stimme so besonders: Sie ist ein wirkmächtiges Instrument. Da könnte einem vielleicht zunächst die Orgel als optisch größtes Instrument einfallen, schließlich kommt sie recht majestätisch daher. Aber die Stimme hat in ihrer Durchschlagkraft – und damit meine ich nicht ihre Lautstärke, sondern ihre Intensität – nochmals ganz andere Fähigkeiten: nämlich entweder zu unterdrücken oder zu erheben, aber auch zu trösten. Ihre Einsatzmöglichkeiten reichen vom Wiegenlied, das man Kindern vorsingt, bis zum Gesellschaftsereignis von größten Opern- oder Oratoriengesängen. Die Stimme rundet – anders als andere Instrumente – unsere Biografie ab: vom ersten Geburtsschrei bis zum letzten Seufzer. Das macht für mich den Kernunterschied aus. Und erst nach dieser ganz biografisch-menschlichen Direktheit kommt für mich ihre Ebene als Kulturträger.

DOMRADIO.DE: Seit vielen Jahren beteiligen sich bundesweit viele Landesmusikräte an der 2008 von Schleswig-Holstein ins Leben gerufenen Initiative "Instrument des Jahres". Damit steht jeweils ein Musikinstrument im Mittelpunkt, das mehr Beachtung finden und dessen Bedeutung neu geweckt werden soll – auch weil hier der musikalische Nachwuchs fehlt. 2023 drehte sich alles um die Mandoline, in diesem Jahr um die Tuba. Gleichzeitig fördert dieses Projekt die Öffentlichkeitsarbeit für Musik generell. Haben die menschliche Stimme und ganz allgemein auch die Musik das wirklich nötig?

Martin Meyer

"Jedes Instrument – und die Stimme noch einmal mehr – steht für Kultur und damit für Konsens und gemeinschaftlichen Willen unserer Zivilisation – somit letztlich für Frieden."

Meyer: Ganz klar ja. Und zwar nicht weil es diesem speziellen Instrument Stimme an Bedeutung fehlen würde, sondern eher an angemessener Beachtung und Wertschätzung im Alltäglichen, aber auch im Politischen. Wir rutschen ja zunehmend in eine Phase, die vielfach von Sparzwängen oder auch dem Recht des Stärkeren dominiert wird. Jedes Instrument – und die Stimme noch einmal mehr – steht hingegen für Kultur und damit für Konsens und gemeinschaftlichen Willen unserer Zivilisation. Somit letztlich für Frieden. Daher kommt das Signal, sie auszuzeichnen, gerade zur rechten Zeit. Denn eine solche Würdigung ist allein schon deshalb wichtig, weil sie die mit den Ausdrucksmöglichkeiten der Stimme verbundenen Aspekte der Hingabe, Ausbildung und Professionalität in den Fokus rückt und gleichzeitig Ressourcen einfordert. 

Der Kirchenmusiker Martin Meyer am Dirigentenpult / © Martin Meyer (privat)
Der Kirchenmusiker Martin Meyer am Dirigentenpult / © Martin Meyer ( privat )

In Zeiten, in denen gerade junge Menschen als passive digitale Konsumenten wahrgenommen werden, wendet eine Aktion wie "Instrument des Jahres" dieses Verhalten ins Gegenteil und lädt zur Aktivität ein. Glücklicherweise wird in jeder Schule, in jeder Kirchengemeinde und in vielen anderen Gruppierungen gesungen. Hinzu kommt, dass in einer Welt voller visueller Reize die Aufmerksamkeit nun auf Akustisches, den Hör-Sinn und das Miteinander-Tun gelenkt wird, was ich als Chorleiter nur befürworten kann.

Gemeinschaftliches Tun – bleiben wir beim Musizieren – relativiert immer den Einzelnen und erfordert die Fähigkeit, sich einzuordnen, um in einen Gleichklang miteinander zu kommen, und zu schauen: Wer hat gerade Vorrang, bin ich selbst vielleicht zu dominant? Das wünschte man sich ja auch für unseren gesellschaftlichen Umgang. Von daher ist Lobbyarbeit zugunsten von Musik absolut notwendig, gerade auch angesichts wegbrechender Ressourcen, was finanzielle Förderung und damit den Nachwuchs an talentierten Spitzenkräften anbelangt.

Musik ist deshalb so wichtig, weil sie über dem Banalen, dem Alltäglichen steht und über alles Persönliche hinausweist. Als universelle Sprache verbindet sie die Menschen und dringt wie nichts anderes zu einer seelischen Tiefe vor. Musik berührt. Das macht sie so kostbar und schützenswert.

DOMRADIO.DE: Von klein an singen Sie selbst. Später haben Sie die Arbeit mit der Stimme zu Ihrem Beruf gemacht. Was fasziniert Sie daran? 

Gut aufeinander zu hören zählt zur Kernkompetenz beim Singen / © Martin Meyer (privat)
Gut aufeinander zu hören zählt zur Kernkompetenz beim Singen / © Martin Meyer ( privat )

Meyer: In der Tat spielen in meiner persönlichen Biografie zwei Instrumente eine wichtige Rolle: die Orgel und die Stimme. Schon als Organist habe ich immer gespürt, wie viel Kraft aus Menschen strömt, wenn sie gemeinsam singen: egal ob bei Beerdigungen, dem Schulgottesdienst oder in der Christmette. Im Studium habe ich dann mehr und mehr auch die Vokalmusik für mich entdeckt – als Brücke zur Gemeinschaft. Während man an der Orgel eher Solist ist, muss man beim Singen aufeinander hören, um eine harmonische Balance miteinander zu kreieren. Eine singende Gemeinde erleben wir doch deshalb als so erhebend, weil sich die einzelne Stimme hier potenziert: Jede Stimme vervielfacht sich zu einem großen Klang.

Martin Meyer

"Gerade beim Musizieren mit der Stimme kann man beobachten, wie sie hörbarer Bestandteil von Wachstum und Reifung ist. Das ist gerade im Kindes- und Jugendalter ein spannender Prozess."

Neben dem Gemeinschaftselement ist Vokalmusik aber immer auch Trägerin von Semantik, von Bedeutung. Das Orchester gibt ja "nur" Klänge von sich, während es beim Singen zusätzlich die Textebene gibt. Also zur Klangebene und zu den evozierten Emotionen kommen außerdem noch inhaltliche Aussagen, was in der Kirchenmusik von großer Bedeutung ist, weil es um Botschaften geht. Und dann verkörpert die Stimme noch viel mehr als andere Instrumente menschliche Entwicklungsprozesse. Gerade beim Musizieren mit der Stimme kann man beobachten, wie sie hörbarer Bestandteil von Wachstum und Reifung ist. Das ist gerade im Kindes- und Jugendalter ein spannender Prozess. Insbesondere die Jungen "verlieren" ihre Knabenstimme während der pubertären Mutation komplett, bis daraus einen Erwachsenenstimme wird. 

Martin Meyer bei einem Auftritt mit dem Staats- und Domchor Berlin in der Gedächtniskirche / © Martin Meyer (privat)
Martin Meyer bei einem Auftritt mit dem Staats- und Domchor Berlin in der Gedächtniskirche / © Martin Meyer ( privat )

Doch in jedem Stadium ihrer Entwicklung steht die Stimme für Identität. Das gilt auch für die Sprechstimme, aber eben noch einmal im besonderen Maße, wenn jemand singt. Herauszufinden, ob die eigene Stimme eher schlank und lyrisch oder groß und weit werden kann, ist für junge Menschen – zumal als Chorsänger – immer ein Abenteuer. Und wenn sie dann auch noch spüren, dass sie mit ihrer Stimme, beispielsweise in einem Konzert, andere berühren, ist das ein pures Erlebnis von Persönlichkeitsentwicklung und Selbstwirksamkeit.

DOMRADIO.DE: Im Mai 2021 sorgte die abgewiesene Klage einer Mutter, die partout durchsetzen wollte, dass ihre neunjährige Tochter aus Gründen der Gleichberechtigung in den Konzertchor des Staats- und Domchors Berlin – einen traditionellen Knabenchor – aufgenommen wurde, bundesweit für Schlagzeilen. Damals waren Sie Teil der Chorleitung. Was war passiert? Und was hatte das mit dem Thema Stimme zu tun?

Meyer: Das Argument der Familie betraf damals die Gleichbehandlung. Das Mädchen wollte in den Knabenchor aufgenommen werden. Die Klage ist gescheitert, weil dem Chor zugestanden wurde, sein künstlerisches Profil – den Klang des Chores – selbst wählen und bewahren zu dürfen. In diesem Kontext wurde offenbar, dass mit dem Instrument Stimme weitere Aspekte wie Geschlechtlichkeit, Identität, Gleichberechtigung, kulturelle Werte, Teilhabe und Antidiskriminierung verbunden sind. Den wissenschaftlichen Gutachtern ist es gelungen darzustellen, dass der Stimmklang eine messbare Größe ist. Es ging darum, das Kind eben nicht nach seiner geschlechtlichen Identität zu bewerten, sondern – aus der künstlerischen Sicht – nach seinem Stimmklang. Und zwischen einer Knaben- und einer Mädchenstimme besteht nun mal ein wesentlicher Unterschied. 

2014 bei der Einführung Kardinal Woelkis  stand Martin Meyer dem Vokalensemble Kölner Dom als Assistent der Kölner Dommusik vor. / © Beatrice Tomasetti (DR)
2014 bei der Einführung Kardinal Woelkis stand Martin Meyer dem Vokalensemble Kölner Dom als Assistent der Kölner Dommusik vor. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Die Klage zielte darauf ab, etwas mutmaßlich Ausgrenzendes zum Gegenstand zu machen. Am Ende aber stand die rechtssichere Erkenntnis, dass die Unterscheidung zwischen einer Knaben- und einer Mädchenstimme für eine Vielfalt spricht. Und wenn ein Chorleiter eine Idealvorstellung von einem Klang hat und sich dabei auf die künstlerische Freiheit beruft, darf er auch eine Auswahl an Stimmen treffen – was umgekehrt ja ebenso für einen reinen Mädchenchor gilt. Der Blick zielte dementsprechend auf das Klangprofil des Instrumentes.

DOMRADIO.DE: Die Stimme verbinde die Menschen auf der ganzen Welt und schaffe die Basis für Kommunikation und gegenseitiges Verständnis, argumentieren die Juroren des Musikinformationszentrums und des Deutschen Musikrats. In einem spannenden Zusammenspiel aus Muskeln, Stimmlippen und Knorpel im Kehlkopf entstehe die für jeden Menschen einzigartige Stimme, heißt es. Der Stimme kommt also neben dem Sprechen und Singen auch noch eine soziologische und sogar politische Bedeutung zu…

Meyer: Die Stimme steht für das Recht, gehört zu werden. Wir wissen, dass in Diktaturen und fundamentalistischen Staaten das Singen oft unterbunden oder auch ganz verboten wurde. Selbst in der Religionsgeschichte, beispielsweise bei dem Schweizer Reformator Zwingli, begegnet uns diese Haltung. Aber auch in der katholischen Tradition gab es im 19. Jahrhundert ein Gesangsverbot für Frauen. Und die jüngste Episode dieser Repressalien haben wir in der Pandemie erlebt, als in der Corona-Schutzverordnung gemeinsames Singen in geschlossenen Räumen ausdrücklich untersagt war.

Martin Meyer

"Viele historische Augenblicke verbinden wir mit Stimmen, die nie mehr vergessen werden, weil sie unsere Welt verändert haben und auch identitätsstiftend waren."

Positiv heißt das aber auch, die Stimme steht ganz klar für Einheit und Freiheit. Nicht umsonst haben viele gesellschaftspolitische Umbrüche und Freiheitsbewegungen gemeinsame Lieder und auch eine Stimme, wenn ich da an das legendäre "I have a dream" von Martin Luther King denke, wo es ja um diese ins Mikrofon geschallte Stimme und nicht das Vortragen irgendwelcher Buchstaben ging. Oder ich denke an unvergessliche Sätze wie "Tear down this wall" von Ronald Reagan vor dem Brandenburger Tor, "Yes, we can" von Barack Obama oder "Wir schaffen das" von Angela Merkel, die sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Viele historische Augenblicke verbinden wir mit Stimmen, die nie mehr vergessen werden, weil sie unsere Welt verändert haben und auch identitätsstiftend waren.

Martin Meyer (ganz rechts) ist Teil des Kölner Gesangsensemble "Vokalexkursion"  / © Beatrice Tomasetti (DR)
Martin Meyer (ganz rechts) ist Teil des Kölner Gesangsensemble "Vokalexkursion" / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Als katholischer Kirchenmusiker formen Sie die Stimme und setzen Sie – beispielsweise wenn Sie mit Chören geistliche Chorsätze, Motetten, Messen oder ganze Oratorien einstudieren – in der Verkündigung ein. Bei dem Einsatz der Stimme handelt es sich folglich um ein – in der Tat – mächtiges Instrument, eine Botschaft zu vermitteln. Was berührt Sie an der menschlichen Stimme am meisten?

Der passionierte Chorleiter und Musikpädagoge will in St. Nikolaus, Bensberg, die Gemeinde zum Mitsingen animieren / © Beatrice Tomasetti (DR)
Der passionierte Chorleiter und Musikpädagoge will in St. Nikolaus, Bensberg, die Gemeinde zum Mitsingen animieren / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Meyer: Für mich persönlich liegt das Faszinosum darin, dass die Stimme ein Türöffner ist; ein Schlüssel zu Herzen, die zuweilen verschlossen sind. Gerade in der Kirchenmusik erlebe ich das oft. "Zum Paradies mögen Engel dich begleiten" an einem offenen Grab, in den Weihnachtstagen das Lied "Menschen, die ihr wart verloren" oder auch das Halleluja in der Osternacht – solche Gesänge brechen mit einem Mal Verhärtungen auf und ermöglichen ungekannte Zugänge. Derartige Ur-Äußerungen kann man nicht einfach nur rezitieren, dafür muss man schon die Stimme singend erheben, damit sie eine solche Wirkung entfaltet. Wenn Menschen sich zu einer einzigen Stimme vereinen – ganz egal ob in einer großen Kathedrale oder in der Dorfkirche – dann scheint darin eine große Authentizität auf, dann lodert eine Kraft auf. Die eigene Stimme zu nutzen ist ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Welt, ein Lebensmittel im eigentlichen Sinne. Denn ohne die Stimme gibt es kein Leben.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Quelle:
DR