DOMRADIO.DE: In den Niederladen sterben im Jahr 6.000 Menschen in Folge von aktiver Sterbehilfe. Inzwischen gibt es aktive Sterbehilfe dort auch für Minderjährige oder Demenzpatienten ohne eindeutige Einwilligung. Was sagen Sie zu den Entwicklungen in den Niederlanden: Brechen hier wirklich die Dämme, was die aktive Sterbehilfe angeht?
Dr. Manfred Lütz (Psychiater und Mitglied der päpstlichen Akademie für das Leben): Ich glaube, die Dämme sind schon längst gebrochen. Es gibt Umfragen unter den Ärzten: Die meisten Ärzte in den Niederlanden haben schon einen Menschen getötet. Ich bin übrigens auch gegen den Ausdruck "aktive Sterbehilfe", das klingt so harmlos. Man muss unterscheiden zwischen "töten" – da werden Menschen getötet – oder "Menschen sterben lassen". Wenn jemand nämlich sterbenskrank ist, dann ist es durchaus christlich und im Übrigen auch Papst Franziskus hat das noch mal betont. Aber töten, das ist uns verboten.
DOMRADIO.DE: Sie sagen in Bezug auf Sterbehilfe, dass man hier genau unterscheiden müsse. Denn da gibt es einmal selbstbestimmtes Sterben: Das sei nicht verwerflich. Und dann gibt es gesetzlich erlaubte Sterbehilfe. Was unterscheidet selbstbestimmtes Sterben denn von aktiver Sterbehilfe?
Lütz: Es gibt ja sozusagen eine Schlacht um Worte und deren Bedeutung: Aktive Sterbehilfe zum Beispiel ist Tötung, das ist keine Hilfe. Es handelt sich dabei um die Tötung eines Menschen. Und dann wird dabei auch noch von "Selbstbestimmung" und "selbstbestimmten Sterben" gesprochen. Das gibt es in Deutschland aber vor allem im Hospiz; da bestimmt nämlich der Sterbenskranke selber, wann und wie er stirbt. Wenn etwa ein Patient im Hospiz sagt, dass er gern noch drei Monate leben möchte, weil sein Enkel aus Australien kommt – dann wird der Arzt im Hospiz ihm helfen, und auch noch die Lungenentzündung behandeln, sodass er so lange durchhält. Aber wenn ein Patient sagt: "Herr Doktor, ich habe mit meinem Leben abgeschlossen, ich habe Krebs, ich möchte jetzt sterben – bitte lassen Sie mich." Dann wird der Arzt das tun, was der Patient sagt, nämlich die Lungenentzündung nicht mehr behandeln. Sterbenlassen ist keine Tötung. Das ist etwas sehr humanes und christliches und hat nichts damit zu tun, dass man mit allen Mitteln gegen den Tod kämpft. Das wäre etwas sehr unchristliches und manipulatives, so wie auch die Selbsttötung manipulativ ist.
DOMRADIO.DE: Was würde passieren, wenn man in Deutschland eine entsprechende rechtliche Regelung schaffen würde, wie in den Niederlanden?
Lütz: Es geht darum: Wenn man tatsächlich eine rechtliche Regelung schafft, aufgrund derer man Menschen töten kann, wie in den Niederlanden, dann führt das dazu, dass selbstbestimmtes Sterben in Deutschland für Schwerkranke, Demenzkranke und Behinderte nicht mehr möglich ist. Die stehen dann nämlich alle unter Druck, ihren Angehörigen und Mitmenschen nicht mehr zur Last zu fallen: Sie könnten sich ja töten lassen, es gibt dann ja eine rechtliche Regelung. Und wenn sie es nicht tun, dann stehen sie unter Druck. Deswegen ist es wichtig, dass wir keine gesetzliche Erlaubnis haben, dass Menschen sich töten lassen.
DOMRADIO.DE: Das ist also die größte Gefahr?
Lütz: Ja, das ist eine große Gefahr für die gesamte Gesellschaft. Und wenn es tatsächlich den ärztlich assistierten Suizid gegeben hätte – der ja aber Gott sei Dank im Bundestag abgelehnt worden ist – dann hätte sich das auf alle Millionen Arzt-Patienten-Beziehungen in Deutschland ausgewirkt. Ich selbst bin Psychiater und ich muss immer in den Augen des Patienten sehen: Will dieser depressive Patient mich jetzt bald fragen, ob ich ihn töte? Und der Patient schaut mich an, nach dem Motto: "Würde er mich töten, wenn ich ihn frage?" Das ändert die Atmosphäre zwischen Arzt und Patient. Momentan ist es so, dass, wenn ein depressiver Patient zu mir kommt, der auch suizidal ist, und er mir das sagt, dann weiß er von mir, dass ich ihm zum Leben helfen werde. Wenn er dann aus der Depression raus ist, wird er sagen: "Was habe ich da für einen Quatsch gesagt? Gott sei Dank lebe ich noch."
DOMRADIO.DE: Was halten Sie von dem Versuch des Vereins "Sterbehilfe Deutschland", über den Umweg Schweiz aktive Sterbehilfe in Deutschland anzubieten?
Lütz: Da werden alle möglichen Tricks versucht und das halte ich für total unseriös. Man versucht sich aufzuspielen als Verteidiger der Autonomie. Ich glaube, das sind Menschen, die sich sehr wichtig tun; Herr Kusch ist so jemand, der auf jeder Bühne steht und es ist schon äußert unappetitlich, was da passiert.
DOMRADIO.DE: Fehlt uns grundsätzlich eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Sterben und Tod" – schon zu Lebzeiten?
Lütz: Ich glaube nicht, dass das Thema so sehr verdrängt wird. Ein bisschen muss man es auch verdrängen. Ich meine, wenn Sie ins Auto steigen und sofort an die Unfallstatistik denken; dann fahren Sie ja gar nicht mehr los. Man muss schon aufpassen, dass man nicht von morgens bis abends an den Tod denkt. Aber das Sterben an sich ist etwas sehr Wichtiges. Wir Christen haben einen Sterbenden bei uns im Wohnzimmer hängen, am Kreuz: den Gottessohn Jesus Christus. Uns muss das sowieso bewusst sein. Ich glaube, ehrlich gesagt, man klagt da immer so darüber, dass es verdrängt würde. Aber man redet doch heute noch viel mehr über das Thema als noch vor 40 Jahren. Es ist wichtig, dass man die Themen immer mal wieder ins Bewusstsein hebt. Deswegen finde ich es auch wichtig, dass Sie das bei DOMRADIO.DE immer wieder mal zum Thema machen.
Das Interview führte Dagmar Peters.