domradio.de: Bislang wird für Tierprodukte wie Fleisch oder Milch der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent erhoben. Die Erhöhung auf 19 Prozent ist erst einmal nur ein Vorschlag. Was sagen Sie dazu?
Dr. Rainer Hagencord (Institut für Theologische Zoologie in Münster): Der Vorschlag kommt aus einer gewissen Nachdenklichkeit, die momentan sehr stark diskutiert wird. Die geringere Besteuerung hat ihre Wurzeln in der Zeit, als Fleisch und Milch Grundnahrungsmittel waren. Das dürfte in der Zeit der 1950er oder 1960er Jahre gewesen sein. Heute stellt sich die Frage, ob das immer noch so ist. Dürfen wir Fleisch und Milch immer noch als Grundnahrungsmittel verstehen? Haben wir ein Recht auf Fleisch? Inzwischen gibt es immer mehr Argumente gegen diese Position. An dieser Stelle finde ich es wichtig zu sagen, dass wir, wenn wir über Fleisch und Milch in diesem Zusammenhang sprechen, über ein System reden. Wir sprechen davon, dass 98 Prozent des Fleisches und etwa der gleiche Prozentsatz bei der Milch aus industrieller Tierhaltung kommt. Da befinden wir uns mitten in der gesellschaftlichen Baustelle, wo an vielen Stellen derzeit gearbeitet und gerungen wird. Das halte ich auch für angemessen und notwendig.
domradio.de: Die Idee ist nicht neu: Berater des Bundeslandwirtschaftsministeriums hatten den Vorschlag schon im vergangenen Jahr unterbreitet. Viele halten die Diskussion darüber für längst überfällig. Würden Sie damit einen Bruch im Denken der Gesellschaft verbinden?
Hagencord: "Bruch" ist vielleicht ein zu starkes Wort. Ich erlebe einen gesellschaftlichen Wandel, bei dem eine andere Ebene im Spiel ist. Das heißt meines Erachtens im Moment, dass die Gesellschaft insgesamt überlegt, eine solche Art der Landwirtschaft und Tierhaltung überhaupt haben zu wollen. Wir haben in Deutschland inzwischen acht Millionen Vegetarier. Das wäre vor zehn, 15 Jahren noch beinahe undenkbar gewesen. Es gab Vorstöße von Bundesumweltministerin Hendricks zu landwirtschaftlichen Bauordnungen. Stichwort: Dürfen Mastanlagen weiterhin gebaut werden? Wir haben eine Revision des berühmten "Kükenschredder-Urteils". Es gibt inzwischen aus verschiedenen Richtungen Papiere oder Vorschläge. Das gesellschaftliche Thema, ob wir diese Art von Tierhaltung wollen, steht demnach ganz oben auf der Agenda. Wir erleben hier natürlich auch Blockaden. Der Bauernverband protestiert dagegen. Der Landwirtschaftsminister, der oftmals viel zu sehr für den Bauernverband steht, macht sich sofort diese Argumentation zu Eigen. Greenpeace jubelt sofort laut auf. Positiv gesehen sind wir an einer Stelle, an der sich die gesamte Gesellschaft fragt, ob wir weiterhin diese Art der Tierhaltung wollen.
domradio.de: Wobei der Unmut der Bauern vielfach gerechtfertigt scheint. Viele können sich alleine mit Milchwirtschaft nicht finanzieren. Was sagen Sie den Bauern?
Hagencord: Das ist tatsächlich eine große Not. Ich bin viel mit Landwirtinnen und Landwirten im Gespräch und sehe auch diese Not. Diese Bauern und Landwirte sind Teil des Systems. Aber das System der industriellen Tierhaltung hat letztlich nur Verlierer. Dazu zählen auch die Bauern und Landwirte. Weitere Verlierer sind der Boden, das Klima oder die Artenvielfalt. Das Wohl der Tiere ist ohnehin in großer Gefahr. Gewinner sind lediglich die Fleisch- und die Pharmaindustrie. Das System als solches sollten wir uns anschauen. Ich glaube, dass sehr viele Landwirtinnen und Landwirte bereit sind, einer Veränderung zuzustimmen und nach Hilfe und Unterstützung zu suchen. Da ist die Gesellschaft und da ist auch die Kirche gefordert, einen Bewusstseinswandel herzustellen, dass Menschen bereit sind, mehr Geld für gut hergestellte, ethisch einwandfreie Milch- und Fleischprodukte auszugeben. Wir sind in einer Zeit angekommen, in der die Gesellschaft das auch will.
Das Interview führte Verena Tröster.