"Für mich ist das ein Heimatort, ein vertrauter Ort, ein mir über die Jahre zugewachsener Ort." Wenn Domkapitular Dominik Meiering vor dem Bild der Stadtpatrone steht, sprudelt es nur so aus ihm heraus. Beim Blick auf den golden leuchtenden Altar werden viele Erinnerungen wach. Denn schon als kleiner Junge habe er hier gestanden, später an dieser Stelle oft den Rosenkranz vorgebetet. Groß geworden sei er schließlich im Dom, blickt der 51-Jährige mit einem leisen Lächeln zurück. Mit acht Jahren in den Kölner Domchor eingetreten. Mit 14 stimmbruchbedingt zu den Messdienern gewechselt. Eine frühe Weichenstellung für den späteren Berufswunsch?
Hier entdeckt der Teenager jedenfalls neben seiner Liebe zur Musik schnell eine neue Leidenschaft. "Mit großer Begeisterung habe ich sonntags im Hochamt gedient. Aber auch für die Freitagabendmesse mit dem damaligen Dompfarrer und Künstlerseelsorger Friedhelm Hofmann, später Bischof von Würzburg, war ich stets gesetzt." Er sei der Erste gewesen, der ihm dieses wunderbare Gemälde von Stefan Lochner erschlossen habe. "Und er hatte die große Gabe, die Architektur und Bilderwelt des Domes mit den dazu gehörigen Geschichten lebendig werden zu lassen."
Eine Darstellung voller Anspielungen
Bis heute ist der Lochner-Altar in der Marienkapelle Meierings Lieblingsort im Kölner Dom. Und bis heute liebt er es, an junge Leute bei einer Führung durch die Kathedrale, wie er sie in seiner Zeit als Stadtjugendseelsorger oft angeboten hat, sein Wissen weiterzugeben, mithilfe dieses Kunstwerks das Wesen des christlichen Glaubens zu erläutern. "Dieses Tafelbild ist das Dombild schlechthin", stellt er fest. Und dann beschreibt Meiering, der als promovierter Kunsthistoriker wahrlich eine Expertise mitbringt, die Botschaft hinter dem Bild und spricht davon, dass auf der mittleren Tafel des jahrhundertealten Tryptychons mit der Vollkommenheitszahl "Drei" gespielt wird: Da sind die drei Könige aus erkennbar drei unterschiedlichen Generationen, dann drei Fahnen für die damals drei bekannten Kontinente Europa, Asien und Afrika, schließlich die drei mitgebrachten Gaben Gold Weihrauch und Myrrhe als Symbole für die drei Zuschreibungen Jesu: König, Gott, Mensch.
Und dann der Aufbau des Bildes, dem – schaut man nur lange genug hin und betrachtet die Krone der thronenden Gottesmutter als einen der Winkel – gleich mehrere Dreiecke zugrunde liegen. Nicht zuletzt die drei dominierenden Farben blau, grün, rot, die, so interpretiert Meiering, für die Trias Glaube, Hoffnung, Liebe stehen. "Eine Darstellung voller Anspielungen. Man muss sie nur lesen und deuten können", sagt einer, der sich in der Materie sichtlich auskennt und gelernt hat, tiefer zu graben, den Dingen auf den Grund zu gehen, um zu verstehen, was sich hinter der Oberfläche verbirgt, und sich nicht allein mit dem Offensichtlichen zu begnügen.
Eine Einladung an die Menschen aller Generationen und Erdteile
"In den Heiligen Drei Königen sind drei Prototypen des Menschen zu erkennen, die nicht daheim auf dem Sofa sitzengeblieben, sondern aufgestanden und aufgebrochen sind. Die nicht pausenlos auf ihr Handy starren, sondern ihren Blick nach oben richten", liefert der Koordinator der katholischen Kirche in der Kölner Innenstadt eine denkbare Übersetzung in Jugendsprech zu den drei Sterndeutern aus dem Morgenland. "Sie haben einen Stern gesehen, hatten eine Vision. Der sind sie mutig gefolgt. Und dann machen sie am Ende eine Entdeckung: Sie finden Gott im Angesicht eines Kindes."
Natürlich sei das Kölner Dombild auch Interpretation einer biblischen Erzählung und müsse in der Bildsprache seiner Zeit gesehen werden, erklärt der Domkapitular. Hier inmitten dieses Paradiesgartens mit seinem satt grünen Rasenteppich, den kostbaren Blumen und dem goldenen Hintergrund als Sinnbild des Himmels werde Gott nach mittelalterlicher Lesart in seiner ganzen Schönheit sichtbar. "Gleichzeitig kommt hier ein universaler Anspruch zum Ausdruck. Denn dieses Gemälde ist zu jeder Zeit – und nicht nur im 15. Jahrhundert – eine Einladung an die Menschen aller Generationen und Erdteile, Glaube, Hoffnung und Liebe zu leben und damit Gott zu erfahren – wenn sie nur nach ihm suchen. Es geht nicht um katholische Exklusivität. Ganz im Gegenteil: Niemand soll ausgeschlossen bleiben."
Mitten im Heilsgeschehen eine wohlhabende Stadtgesellschaft
Aber auch um den kunsthistorischen Kontext dieses Lochner-Werks weiß Meiering und erzählt die Entstehungsgeschichte dieses Flügelaltars: dass er ursprünglich um 1442 im Auftrag der Stadt Köln für die Ratskapelle geschaffen wurde und bürgerliches Selbstbewusstsein in der Domstadt zur Schau stellen sollte. Dass das Triptychon Jahrhunderte später – 1794 – vor den französischen Revolutionstruppen versteckt wird, bevor es 1810 in den Dom gelangt. Dass es im 19. Jahrhundert einen Popularitätsschub erlebt und mehrfach kopiert wird. Dass es im Zweiten Weltkrieg rechtzeitig ausgelagert wird und damit dem Bombenhagel entgeht.
Und dass jeweils in der Advents- und Fastenzeit die beiden Flügel geschlossen bleiben, um dann die Verkündigungsszene auf der Werktagsseite sichtbar zu machen: Maria, vor reich gemustertem Goldvorhang in ein fließendes Gewand gehüllt, erscheint als vornehme Dame, die beim Lesen von Erzengel Gabriel überrascht wird. Während die Feiertagsseite mit den Kölner Schutzheiligen, in deren Reihen sich die prestigeträchtige Kölner Oberschicht gerne sehen wollte – daher die absichtlich gewählte Nähe zu den Königen – zum opulenten Bühnenszenario mit kleinteiligem Dekor wird. Summa Summarum: inmitten der Heilsbotschaft eine wohlhabende Gesellschaft, die eine führende Handelsmetropole repräsentiert, als die Köln damals galt.
Enge Beziehung zu den Heiligen Ursula und Gereon
"Trotzdem geht es hier nicht primär um die Selbstdarstellung der stolzen Kölner, um Reichtum und Macht, sondern um die Neuentdeckung des Lebens in seiner ganzen Schlichtheit und Blöße – eben in der Einfachheit eines Kindes", betont der Theologe. Auch wenn die künstlerische Qualität der Darstellungsart nicht zu toppen sei und für ehrfürchtiges Staunen sorge. "Die Lebendigkeit der Figuren, die Pracht der wallenden Stoffe und kostbaren Felle, die naturgetreue Nachempfindung der Gesichter, aber auch der detailverliebten Accessoires und Requisiten zeugen von einer exzellenten Kunstfertigkeit, wie sie zu dieser Zeit alles Gekannte in den Schatten stellte. Zweifellos gehört das zu dem Besten, was es damals in Köln zu sehen gab und was auch mich immer wieder aufs Neue begeistert."
Ganz abgesehen davon habe er als Innenstadtpfarrer und zuständig für die Citypastoral schon mal per se eine enge Beziehung zu den Heiligen Ursula und Gereon, deren Martyrium in der frühen Stadtgeschichte Kölns eine große Rolle gespielt habe und denen die beiden äußeren Tafeln gewidmet seien: Ursula mit ihren 11.000 Gefährtinnen und dem christlichen Legionär Gereon mit seinen Soldaten. Beide habe man bis in den Tod um ihres Glaubens willen verfolgt, so der Domgeistliche.
Bilder sind Impuls und emotionaler Anker
"Doch trotz aller Bewunderung für ein herausragendes Kunstwerk ist nach wie vor das Entscheidende, dass sich die Menschen vor diesem Altar schon immer zur Andacht versammelt haben und dieser Altar noch heute – jedenfalls außerhalb von Corona – vor allem ein Ort des Gebetes ist", findet Meiering. "Mir persönlich geht es da nicht anders. Die Betrachtung dieser Bilder schenkt mir Ruhe und Trost, Kraft und Mut. Sie sind mir Impuls und gleichzeitig emotionaler Anker. Denn von ihnen geht etwas aus. Sie verändern mich, geben mir Halt. Und sie richten Fragen an mich: Wer bist Du? Wer willst Du sein? Wie hat Gott Dich gedacht?"
Es ist, als provozierten die Figuren in innigen Momenten einen Dialog, blinzelten einem zu und forderten ein Bekenntnis ein, erklärt der Seelsorger schmunzelnd weiter. "Da kann sich niemand ducken. Keine Chance. Sie schauen Dich an und richten sich sehr konkret an jeden einzelnen Beter, als wollten sie es wissen: Was ist mit Dir? Welche Rolle willst Du in dieser ganzen Geschichte spielen? Machst Du da mit? Und wenn ja, was ist Dein Part?"