DOMRADIO.DE: Premierminister Boris Johnson und die Konservativen haben die Parlamentswahlen in Großbritannien klar gewonnen. Das heißt, Oppositionspläne von einem zweiten Referendum oder von einer Brexit-Absage haben sich erledigt, oder?
Prof. Stefan Schieren (Politikwissenschaftler an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt): Ja. Ich denke, jetzt wird es wirklich am 31. Januar dazu kommen, dass die Briten aus der EU ausscheiden. Ab 1. Februar wird dann bis zum Ende des kommenden Jahres eine Übergangsfrist gelten, sodass einige Regeln, etwa zum Handel, weiter gelten. Dann soll ein Handelsabkommen abgeschlossen werden, das ab dem 1. Januar 2021 gilt.
Es ist ein bisschen sehr sportlich, das in elf Monaten verhandeln zu wollen. Es gibt auch die Möglichkeit, im Sommer nochmal eine weitere Verlängerung dieser Übergangsfrist zu vereinbaren. Insofern ist der harte Brexit, das alles ohne Abkommen passiert, zwar noch nicht vom Tisch, aber nach den gegenwärtigen Mehrheitsverhältnissen eher unwahrscheinlich.
DOMRADIO.DE: Erinnern wir uns an die letzten Brexit-Runden: Da ist das ausgehandelte Abkommen ja auch nicht durchs Parlament gekommen, weil es einige Abweichler in den eigenen Reihen gegeben hat. Wird das denn jetzt anders?
Schieren: Ich rechne damit, dass die Geschlossenheit der Partei insgesamt sehr groß sein wird. Die konservativen Kandidaten mussten alle vor der Wahl unterzeichnen und zusichern, dass sie nicht gegen Regierungsvorlagen stimmen werden, nicht einmal Änderungsanträge stellen dürfen, die ja in der Vergangenheit regelmäßig Probleme bereitet haben. Insofern hat Johnson wohl im Vorfeld dafür gesorgt, dass er eine Fraktion bekommt, die mit ihm diesen Brexit dann auch tatsächlich verrichtet.
DOMRADIO.DE: Mit dem Zeitplan, den Sie eben erwähnt haben, sind die Probleme aber noch längst nicht erledigt. Das heißt ja nicht, dass jetzt alles reibungslos über die Bühne gehen wird.
Schieren: Nein, es ist ja schon mehrfach darauf hingewiesen worden, dass eine ganze Reihe von Folgen droht. Ich sehe langfristige Folgen vor allem dann, wenn ein Handelsabkommen mit den USA abgeschlossen wird und man den Amerikanern darin zu weit entgegenkommt, weil man unbedingt ein derartiges Abkommen möchte.
Das wird vor allen Dingen landwirtschaftliche Güter und Lebensmittel betreffen. Da werden einige Standards, die heute in Großbritannien über die EU gelten, nicht mehr wirksam sein. Und ganz besonders große Sorge wird man sich wohl machen müssen, wenn das Gesundheitssystem in Teilen privatisiert und einem amerikanisch-britischen Handelsabkommen unterworfen wird. Dann könnte es sogar sein, dass die heiligste Kuh der Briten, nämlich der National Health Service, in einigen Teilen privatisiert wird. Deswegen sind einige Äußerungen wie: "Wir haben eine historische Wahl" oder "Man wird das Land in fünf Jahren nicht wiedererkennen" durchaus nicht ganz von der Hand zu weisen.
DOMRADIO.DE: Man könnte ja den Eindruck bekommen, bei dieser Wahl ging es nur um den Brexit. Zu einem großen Maße stimmt das auch. Aber was bedeutet das Ergebnis denn für die anderen Themen, die es noch in Großbritannien gibt?
Schieren: Es ist in der Tat auf den ersten Blick so, dass der Brexit entscheidend gewesen ist. Denn Labour hat gerade in Gebieten Sitze verloren, die 2016 für den Brexit gestimmt haben. Auch in Regionen, die teilweise über Jahrzehnte schon in Hand der Labour-Partei gewesen sind. Politisch könnte das bedeuten, dass Labour sich für viele, viele Jahre von einer Machtperspektive und -option verabschiedet hat.
Denn man muss ja sehen: Das ist, in Sitzen ausgedrückt, das schlechteste Wahlergebnis seit 1935. In Prozenten ausgedrückt hat die Partei durchaus schon wesentlich schlechter abgeschnitten, aber mehr Sitze erreicht. Das heißt, Labour fällt es immer schwerer, genügend Sitze zu bekommen. Früher reichten manchmal 35-36 Prozent für die absolute Mehrheit. Heute wird es mit 40-42 Prozent schwer, eine absolute Mehrheit zu erreichen. Und vor allen Dingen fehlen die Sitze aus Schottland und Wales. Politisch kann es also sein, dass wir jetzt auch viele, viele Jahre eine konservative Dominanz in Großbritannien haben.
Sozialpolitisch wird das bedeuten, dass möglicherweise der Privatisierungpfad weitergegangen wird und auch Bereiche erfasst, die bisher als Tabu galten. Allerdings muss man hier auch eine Einschränkung machen: Der Wahlerfolg der Konservativen in bestimmten Industriegebieten führt jetzt natürlich dazu, dass Abgeordnete ins Unterhaus kommen, die eine Wählerschaft vertreten, die sehr stark auf öffentliche Leistungen, auf Transfers angewiesen sein werden. Von daher muss man auch auf diese Wählergruppen und Abgeordneten Rücksicht nehmen.
Es kann also doch durchaus sein, dass die Struktur dieses Wahlergebnisses dazu führt, dass alles gar nicht so entschieden und hart kommen kann, wie man das auf den ersten Blick vermuten möchte. Insofern wird auch hier in der konservativen Partei möglicherweise eine Änderung stattfinden - aufgrund dieser neuen Abgeordneten, die jetzt im Unterhaus sitzen - die noch nicht ganz abzuschätzen ist.
DOMRADIO.DE: Schauen wir auf den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs: In Nordirland stellt sich die große Frage der Grenzregelung. Schottland hat ja von vornherein gesagt: Wir wollen ein zweites Referendum, wenn es zum Brexit kommt. Dem hat Boris Johnson vor kurzem nochmal eine Absage erteilt. Was heißt das für den Zusammenhalt im Königreich?
Schieren: In Nordirland haben zum ersten Mal, seitdem das nordirische Parlament 1921/22 wieder entstanden ist, die Nationalisten - also die Parteien, die eine Einigung mit Irland möchten - mehr Stimmen bekommen als die Unionisten, die für einen Verbleib im Vereinigten Königreich votiert haben. Das heißt, das Wahlergebnis zeigt, dass das Thema nordirische Vereinigung mit Irland wieder auf der politischen Agenda ist. Das wird natürlich nochmal ganz massiv vorangetrieben, wenn es eine harte EU-Außengrenze gibt. Und das hängt sehr stark davon ab, wie das Handelsabkommen mit der EU aussehen wird.
In Schottland ist es so, dass die Schotten natürlich argumentieren: Wir können die EU-Mitgliedschaft, für die wir gestimmt haben, nur als unabhängiger Staat erreichen. Deswegen fordern wir unsere Unabhängigkeit. Aber hier ist es verfassungsrechtlich eindeutig so, dass das nur mit Zustimmung von London geht. Und diese Zustimmung wird es nicht geben. Das kann ich mir nicht vorstellen. Dann wird die schottische Seite zu entscheiden haben, ob sie eine Volksabstimmung durchführt, ohne dass die entsprechende verfassungsrechtlich eigentlich erforderliche Zustimmung aus London vorliegt. Dann würde man den sogenannten "katalonischen Weg" gehen. Und das wird natürlich zu erheblichen Spannungen führen. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was das eventuell für Folgen haben könnte.
Auch eine weitere Sache wird zu erheblichen Spannungen führen: Durch einen Austritt aus der Europäischen Union müssen ganz viele Rechtsbereiche, die jetzt durch Europa geregelt werden, in Zukunft wieder in England und Großbritannien geregelt werden. Davon müsste eigentlich ein ziemlich großer Teil automatisch an Schottland gehen. Die Brexit-Gesetzgebung sorgt aber jetzt dafür, dass das nicht der Fall ist. Darüber sind die Schotten ziemlich verärgert, das birgt sehr viel Konfliktpotential.
Insofern haben wir ein gespaltenes Land zwischen Stadt und Land, zwischen Alt und Jung, zwischen Arm und Reich, zwischen Gebildet und Ungebildet und auch zwischen den Regionen. Und wie man das wieder zusammenkriegen kann, das wird eine ziemlich schwere Aufgabe sein.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.