DOMRADIO.DE: Schauen wir mal gar nicht so weit weg, sondern direkt bei uns vor der Haustür in Deutschland. Da denken wir oft: Wir sind aufgeklärt, wir leben in einem Sozialstaat. Aber auch hier gibt es Probleme mit Menschenhandel, oder?
Weihbischof Ansgar Puff (Vorsitzender der Arbeitsgruppe Menschenhandel der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz und Weihbischof im Erzbistum Köln): In Deutschland gibt es nach den Zahlen ungefähr 170 000 Menschen, die "gehandelt worden sind". Weltweit sind das ja die erschreckende Zahl von 40 Millionen Menschen. Allein in Europa wird jährlich mit Menschenhandel 25 Milliarden Euro verdient. Das ist der Wirtschaftszweig, der am stärksten wächst.
DOMRADIO.DE: Stichwort Bau, Pflege, Prostitution oder das Beispiel Tönnies. Warum gelingt es denn nicht, dieses Problem in den Griff zu bekommen? Es muss doch Ansätze geben...
Puff: Die Ansätze gab es schon lange und die gibt es immer wieder. Aber keiner hat sie durchgesetzt. Das Problem ist, dass alle wegschauen, weil jeder etwas davon hat. Angefangen bei uns Verbrauchern: Unsere Grillwürstchen sind nur deswegen so billig, weil eben die Arbeitsbedingungen so sind, wie sie sind. In den großen Schlachtbetrieben, da gibt eine Hand der anderen die Hand. Da sind also die Politiker, die mit den Wirtschaftsleuten verbandelt sind. Da ist einer, der eine riesige Schlachtfirma hat, gleichzeitig Vorsitzender eines großen Fußballvereins.
Da sind dann die Pfarrer, die sagen: Ja, aber das sind doch alles gute Katholiken – und alle gucken weg. Bis auf einen, den Pfarrer Kossen, der schon seit Jahren darauf hinweist, dass das so nicht mehr weitergeht. Er ist der Einzige, der mal predigt: "Unbescholtene Bürger verdienen kräftig an der Situation mit, wenn sie abbruchreife Häuser für horrende Preise vermieten." Alle wissen es, alle gucken weg. Das ist das Problem. Jetzt kam Corona, und jetzt haben auf einmal die Menschen nicht mehr weggeguckt. Und Gott sei Dank ändert sich jetzt was.
DOMRADIO.DE: Das neue Gesetz von Arbeitsminister Heil soll ja dagegen wirken. Wie beurteilen Sie das denn?
Puff: Es ist ja gestern vorgestellt worden im Kabinett. Ich kann nur hoffen, dass das, was da drin steht, jetzt auch umgesetzt wird – und nicht wieder kaputt diskutiert wird. Jetzt gibt es natürlich die Ersten, die sagen: Wenn das kommt, dann wandert die ganze Industrie ab, und es wird alles zu teuer. Und das kann man nicht machen. – Alles Quatsch.
Das Problem sind die Werkverträge – und die müssen verboten werden. Werkverträge, das wissen die wenigsten, funktionieren ja so: Die Firma, zum Beispiel Tönnies, sagt: Ich habe da ein Werk zu tun, also beispielsweise: Jede Woche 10.000 Schweine schlachten. Und dafür gebe ich dir jetzt den Auftrag. Du kriegst das Geld, wenn du dieses Werk tust.
Der Subunternehmer, der dann diesen Vertrag unterschreibt, der kann dann selber entscheiden, mit welchen Leuten, unter welchen Arbeitsbedingungen, mit wie viel Gehalt, wo die untergebracht werden. Da kann sich dann der, der die Firma betreibt, der beispielsweise den Schlachthof betreibt, die Fingerchen reiben und sagen: Hab ich alles nichts mit zu tun, geht mich alles nichts an. Ich habe nur einen Werkvertrag, und unterhalb des Werkvertrags gelten keine rechtlichen Regeln mehr.
Das ist schon jahrzehntelang bekannt, ein ganz perfides System. Die Selbstheilungskräfte der Branche funktionieren nicht. Schon vor Jahren ist das rausgekommen. Schon vor Jahren hat es die Industrie im Bereich der Schlachtung versprochen: Ja, wir ändern das, wir reformieren alles. Nichts ist passiert. Jetzt muss ein Gesetz her.
DOMRADIO.DE: Arbeitsminister Heil hat ja auch gesagt: Die Corona-Pandemie war wie ein Brennglas. Wie hat diese Pandemie denn die Lage eigentlich noch verschlimmert?
Puff: Sie hat sie ja gar nicht verschlimmert. Das Problem war immer, dass alle weggeduckt haben. Alle wussten es, und keiner hat hingeguckt. Und Corona? Man muss schon fast sagen "Dank Corona". Corona hat geschafft, dass man auf einmal hingeguckt hat. Dann wurde zum Beispiel möglich, was gesetzlich vorher nicht ging, dass aufgrund der neuen Situation die staatlichen Behörden sich die Wohnsituation anschauen konnten.
Da haben wir dann mal festgestellt, am 8. Juli hat Minister Laumann in NRW das ja berichtet: Von ungefähr 650 Unterkünften, in denen 5300 Personen lebten, wurden 1863 Verstöße und Beanstandungen festgestellt. Das reichte von Schimmel bis Einsturzgefahr, es gab undichte Dächer, katastrophale Sanitäreinrichtungen, Ungeziefer und so weiter. Das wussten alle vorher nicht. Das gab es aber. Es hat sich im Grunde nur soweit was durch Corona verändert, dass endlich das Ganze rausgekommen ist.
Hinzu kam, dass die Leute sauer waren, weil sie jetzt "einen Lockdown hatten" in dieser Region. Dann haben sie gedacht: Wieso müssen wir, nur damit so ein Unternehmer das dicke Geld scheffelt, darunter leiden? Und da hat sich das Blatt gewendet.
DOMRADIO.DE: Wie können wir von hier aus, von Deutschland aus, versuchen, Menschenhandel zu bekämpfen?
Puff: Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, die Augen aufzumachen, nicht wegzugucken und sich im Verhalten zu ändern. Das Verhalten im persönlichen Leben, das ist dann auch schon ein bisschen schwierig. Wenn ich zum Beispiel in der Fleischindustrie all diese Dinge, die jetzt gesetzlich gedacht sind, durchsetzen will, dann muss ich als Verbraucher auch bereit sein, dafür mehr zu bezahlen. Dann ist die Zeit mit den Billig-Grillwürstchen einfach vorbei. Dann muss man auch überlegen, ob man so viel Fleisch essen muss. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt: Es gibt der Menschenhandel nicht nur im Bereich der Arbeitswelt, sondern auch in anderen Bereichen. Beispiel: Prostitution. Das ist in Deutschland einer der größten Bereiche. Heißt ganz klar gesagt: Liebe Männer, geht nicht ins Bordell! Punkt, aus, Ende. Damit verhindert man Menschenhandel.
Der dritte Punkt ist das Thema Lieferketten. Da muss man hingucken. Das ist nicht so ganz leicht, das zu durchschauen. Aber es ist wichtig, die Firmen zu stärken, auch durch den Einkauf, die bereit sind, bei dem Lieferkettengesetz mitzumachen und für fairen Handel zu sorgen.