DOMRADIO.DE: Dass in Deutschland eine Regierung zerbricht, ist im Vergleich zu anderen Ländern sehr selten. Dass dies nun vergangene Woche geschehen ist, war das für Sie ein richtiger, konsequenter Schritt?
Prof. Dr. Peter Schallenberg (Lehrstuhl für Moraltheologie der Theologischen Fakultät Paderborn): Das Zerbrechen der Ampelkoalition, die von Anfang an auf äußerst tönernen Füßen stand, war für mich längst überfällig. Diese Koalition war aus der Not geboren, eine Regierung jenseits der CDU/CSU zustande zu bringen, und sie war im Grunde von Anfang an zum Scheitern verurteilt, da eine grundsätzlich bürgerliche FDP niemals genug Schnittmengen mit den starken linken, ideologisch auf Umverteilung und Klima festgezurrten Flügeln der SPD und der Grünen hat.
Insofern war der Selbstmord der FDP aus Angst vor dem Ampeltod absegnet und am Ende auch notwendig, wenn die FDP eigenständig auch nur eine minimale Chance zum Überleben haben will. Wir hatten im Vergleich zu anderen Ländern lange ein sehr stabiles Parteiengefüge von eher konservativ wirtschaftsliberalen Parteien einerseits und eher progressiv staatsdirigistischen Parteien andererseits.
Das hat sich, bis auf die immerhin noch ehrenwerten rund 30 Prozent der einzig verbliebenen Volkspartei aufgelöst und macht schwierige Koalitionen nötig und das Zerbrechen derselben wahrscheinlich und das Regieren im Vergleich zu früher komplizierter.
DOMRADIO.DE: Nach dem Aus der Ampel-Regierung gab es politischen Streit um die Schuldigen. Vom Kanzler kamen klare Schuldzuweisungen, die FDP hat sich deutlich dagegen gewehrt. Wie beurteilen Sie die politischen Diskussionen nach dem Scheitern der Regierung? Waren die angemessen?
Schallenberg: Die politischen Diskussionen nach dem Ende der Koalition waren dementsprechend: übertrieben, polemisch, persönlich.
Im Grunde ist das politische Geschäft und sind die Regierungen in Europa ja, ganz anders als in archaischen Regierungssystemen wie Großbritannien mit "his majesty‘s" Regierung und "his majesty‘s" Opposition oder in der auf dauernden Konsens angelegten Schweiz, auf wechselnde Koalitionspartner gebaut. Das verstärkt gewollt und systemisch die Gewaltenteilung, zwingt aber zur ständigen Abweichung von der reinen Lehre, man könnte auch sagen: von der reinen Ideologie einer Partei.
Länder, die dies nicht gewohnt sind, wie Deutschland bisher, neigen zu persönlichen Rosenkriegen und polemischer Schuldzuweisung. Das ist aber für das weitere Regieren nicht zielführend und verwechselt eben Person und System: es geht bei der Regierung nicht um Ehe und Freundschaft, sondern schlicht um Kompromisse um des Gemeinwohls Willen.
Wenn aber stattdessen beispielsweise die reine Lehre einer Klimapolitik exekutiert werden soll - koste es was es wolle - kostet das am Ende den Koalitionspartner und viele Wählerstimmen und auch den nüchternen Sachverstand am Tag nach dem Ende der Koalition. Das aber ist einer sachgerechten Demokratie unangemessen.
DOMRADIO.DE: Es gab persönliche Angriffe, vor allem gegen Politiker der FDP. Verkehrsminister Wissing verlässt die Partei, bleibt aber Minister – deswegen wurde er als Verräter tituliert, auch der bisherige Finanzminister wurde unter anderem vom Bundeskanzler mehrfach scharf angegangen. Wie beurteilen Sie diese Auseinandersetzungen, die ins Persönliche ginge?
Schallenberg: Im Grunde sind die persönlichen Auseinandersetzungen, die wir nach dem Zerbrechen der Ampel-Koalition erlebt haben, nicht nur unnötig, sondern auch höchstärgerlich. Argumente sollen zählen, wie etwa der sehr richtige Hinweis von Christian Lindner auf das Einhalten der Schuldenbremse als rote Linie einer möglichen Koalition, nicht persönliche Angriffe.
Auch das eher seltsame Verhalten von Minister Wissing würde ich so als mindestens unangemessen beurteilen, er trat an für die FDP und hat dementsprechend mit ihr abzutreten. Regierungen sind keine Zusammenwürfelungen von Einmannveranstaltungen.
Und sehr persönliche Polemik vergiftet auf Dauer gefährlich das politische Geschäft der Demokratie, das doch auf Kompromiss und nicht auf Krawall angewiesen ist, nicht auf Durchsetzung, sondern auf Auseinandersetzung.
DOMRADIO.DE: Alle, die in der Regierung Verantwortung tragen, haben geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Nun gibt es eine Einigung beim Termin für die Bundestagswahl. Haben damit die politischen Akteure die Verantwortung gezeigt, die von ihnen zu erwarten ist?
Schallenberg: Nach längerer kleingärtnerischer Streitigkeit um die Termine für Vertrauensfrage im Bundestag und Wahltermin haben die Akteure, eigentlich korrekter SPD und Grüne dann doch höhere Verantwortung gezeigt.
Eigentlich versteht es sich ja von selbst, dass nach dem Ende einer Regierung rasch der Souverän, nämlich der Wähler und das Volk Stimme und Entscheidung hat, was soll daher das Herauszögern von Abstimmung im Bundestag und im Land?
Auch das wirkt wieder kleinkariert und eigensüchtig. Gottseidank hat der Bundeskanzler schließlich eingesehen, dass eben Ende auch Ende heißt.
DOMRADIO.DE: In der Debatte um einen möglichen Wahltermin wurde als ein Argument angeführt, dass die Parteien am politischen Rand aktuell hohe Zustimmungsraten haben und es deswegen besser wäre, noch zu warten. Ist dieses Argument ethisch nachvollziehbar, dass das Volk in gewisser Weise "falsch" wählt und man lieber noch etwas wartet?
Schallenberg: Dieses Argument ist durchaus nachvollziehbar, ist aber, fürchte ich, ein vergifteter Bumerang mit verhängnisvoller Langzeitwirkung, wie wir schon bei den Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gemerkt haben. Wenn der Weg schleichend in eine expertokratische Parteiendemokratie führt, reagiert das eigentlich souveräne Wahlvolk entweder mit Wahlenthaltung oder Wahlwut. Das beobachten wir mit dem Erstarken solcher lupenreiner Protestparteien wie AfD oder BSW, die nicht von konsistenten Programmen, sondern von einzelnen Personen und diffuser Proteststimmung leben.
Grundsätzlich hat das Volk die Entscheidung, in den Grenzen des Bundesverfassungsgerichts und seiner Möglichkeit zum Verbot einer Partei. Die Parteien dienen der politischen Meinungsbildung, nicht der politischen Ausgrenzung, auch wenn dazu der ästhetische Begriff der Brandmauer verschämt benutzt wird. Politische Gegner besteht man in der Demokratie nur durch Argumente, nicht durch Ignoranz oder Wut.
DOMRADIO.DE: Nun gibt es einen Termin für die Bundestagswahl, eine entsprechende negative Vertrauensfrage des Bundeskanzlers vorausgesetzt. Was muss jetzt geschehen, damit die Achtung vor der Politik nicht weiter abnimmt und die Politikverdrossenheit nicht zunimmt?
Schallenberg: Achtung vor der Politik heißt ja letztlich: Achtung vor dem Staat. Und Politikverdrossenheit ist nur die kleine und scheinbar harmlose Schwester der Staatsverdrossenheit.
In einer nicht mehr "versäulten" Gesellschaft, wie das die Niederlande klassisch bis in 1970er Jahre waren, und wir im Grunde in Deutschland auch mit Christdemokratie, Sozialdemokratie und Liberalismus in einer radikal offenen und stark individualisierten Gesellschaft, ist die Gefahr groß, den Staat nur mehr als Maultier eigener individueller Interessensverwertung zu betrachten und ihn damit innerlich im Grunde zu verachten.
Das widerspricht dem klassischen Markenkern der Demokratie, die doch immer "res publica", öffentliche Sache des gemeinsamen Wohles aller im Staat lebenden Bürger sein soll, besonders, und das ist dann der ethische Kern, der je schwächeren Bürger, nicht zuletzt der Ungeborenen und der Nachgeborenen.
Verdrossenheit gegenüber Staat und Politik wird abgewehrt durch die ständige Betonung der hinter unserem Staat liegenden Ethik, zum Beispiel in einer explizit Sozialen Marktwirtschaft, und nicht zuletzt durch im buchstäblichen Sinn eindrucksvolle Persönlichkeiten in der Politik, ehrliche Makler des Gemeinwohls ohne allzu mimosige Bereitschaft zu voreiliger Beleidigtheit, denen der vielbeschworene Bürger auf der Straße anmerkt: es geht um die Sache, die öffentliche gute Sache eines guten und menschenwürdigen Staates, nicht aber darum, das eigene oder parteiliche Schäfchen möglichst geschickt über volle vier Jahre Wahlperiode ins Trockene zu bringen. Denn das lässt am Ende jeden guten Willen zur Demokratie austrocknen.
Die Fragen stellte Mathias Peter.