DOMRADIO.DE: Wie nehmen Sie die Stimmung in Berlin zurzeit wahr?
Prälat Karl Jüsten (Leiter des katholischen Büros in Berlin): Zunächst ist es eine große Aufgeregtheit. Es zeichnete sich ab, dass irgendwas innerhalb dieser Woche jetzt geschehen würde. Es hätte sein können, dass sie sich am Mittwochabend zusammenraufen.
Es zeichnete sich aber ab, wenn das nicht passiert, dass dann auch tatsächlich die Koalition auseinanderbricht. Weitere solche Wochen des langen Hin und Her wären auch nicht gut für unser Land gewesen.
Denn es sind ja große Herausforderungen, die der Bundestag jetzt noch zu meistern gehabt hätte, wie etwa den Bundeshaushalt und auch andere Themen, die da noch anstehen. Da ist jetzt Klarheit schon besser.
DOMRADIO.DE: Die verschiedenen Stellungnahmen der Parteispitzen gestern und heute haben gezeigt, dass da ordentlich Dampf im Kessel ist. Das geht auch in Richtung persönlicher Unterstellungen und Bezichtigungen. Wäre da nicht mehr Besonnenheit gerade jetzt angebracht?
Jüsten: Ja, ich finde, man sollte auch mal würdigen, was diese Ampelkoalition gebracht hat. Jetzt nur so zu tun, als ob das drei verlorene Jahre für Deutschland waren, diese Einschätzung teile ich überhaupt nicht.
Zum einen war diese Regierung zum ersten Mal mit einem Angriffskrieg Russlands auf ein europäisches Partner- und Nachbarland befasst. Da hat sie relativ schnell Fuß gefasst und auch die richtigen Antworten gegeben. Dieser Regierung ist es gelungen, dass die Deutschen diese Politik auch unterstützen und dass diese Hilfe für die Ukraine nicht nachlässt. Es ist gelungen, dass viele ukrainische Flüchtlinge bei uns im Land aufgenommen wurden und dass sie eine neue Heimat haben, dass sie jetzt auch versuchen, in Arbeit zu kommen. Das sind ja alles Dinge, die sind ja geschehen.
Dann sind große Transformationsprozesse geleistet worden, die von der Vorgängerregierung liegengeblieben waren, etwa die wichtigen Gesetze zur Bekämpfung des Klimawandels oder zur neuen Energiepolitik. Das wurde ja noch mal erschwert durch den Ukrainekrieg. Dann sind auch in der Sozialpolitik einige Dinge auf den Weg gebracht worden.
Man sollte also nicht kleinreden, was geleistet worden ist. Dass die jetzt übereinander herfallen, weil sie auseinandergebrochen sind – irgendeiner hat es verglichen mit einer Liebe, die geendet ist, dann gibt es meistens in der Beziehung auch erst mal Stress und Streit. Wenn da der Rauch verzogen ist, dann sieht man da auch wieder, was all die Jahre gut war. Vielleicht sollte man diese Ruhe auch haben, darauf zu gucken, was gut war.
DOMRADIO.DE: Der Haushalt, wichtige Entscheidungen, das muss ja irgendwie weitergehen. Da können wir uns Wahlkampfstreitereien eigentlich kaum leisten?
Jüsten: Ich finde es gut, wenn Regierung und demokratische Opposition sich jetzt noch einmal zusammenraufen. Ob diese Konstellation einen Bundeshaushalt hinbekommt, das glaube ich jetzt mal nicht. Das ist auch nicht zwingend erforderlich, weil es genügend gesetzliche Regelungen gibt, die festlegen, wie in diesem Fall zu verfahren ist, wenn der Haushalt noch nicht zustande gekommen ist. Das haben wir auch schon mal häufiger gehabt, wenn Bundestagswahlen waren, dann war auch nicht zum Ende des Jahres der Haushalt da. Dann gibt es Gesetze, die regeln, wie das dann trotzdem geht, dass die Ausgaben getätigt werden können.
Wir stecken in einer schwierigen wirtschaftlichen Rezession. Einzelne Branchen brechen weg. Und da muss man genau gucken: Ist es besser, jetzt noch Dinge auf den Weg zu bringen? Oder ist es besser zu sagen: Nein, jetzt lasst uns schnell wählen, damit dann eine neue, handlungsfähige Regierung in der Lage ist, das alles zu bewältigen.
Aber wer gibt uns die Garantie, dass wir nach der nächsten Bundestagswahl schnell eine neue Regierung haben? Das sind alles sehr schwierige Fragen, vor denen Regierung und Opposition stehen. Und die sollte man besser bewältigen, indem man nicht als Streithähne jetzt aufeinander losgeht, sondern indem man Wege zueinander findet.
DOMRADIO.DE: Welche Aufgaben können in dieser Situation dann auch die Medien übernehmen?
Jüsten: Das ist eine sehr gute Frage. Ich finde, die Medien müssen auch mal wieder besonnener handeln und nicht jeder Aufgeregtheit wie einem Hype hinterherlaufen, weil man entweder der Schnellste oder erste ist, der irgendeine Nachricht hat.
Ich finde, die Aufgabe der Medien in dem Bereich ist, vor allen Dingen aufzuklären, auch mal herauszufinden, welche Gesetze denn jetzt unbedingt auf den Weg gebracht werden müssen und darüber auch nüchtern zu berichten und auch mit dazu beizutragen, dass die Gehässigkeiten, die jetzt überall zu hören sind, ein Ende finden.
DOMRADIO.DE: Und die Kirchen? Wie können die Kirchen zur Stabilisierung unserer Demokratie beitragen?
Jüsten: Die Kirchen haben ja in jüngerer Zeit ein wichtiges und großes Wort formuliert, zum völkischen Nationalismus und Rassismus und zum Antisemitismus. Da haben sie, positiv gesprochen, auf die grundlegende Werte-Demokratie hingewiesen und dass es gilt, die zu stärken und zu unterstützen.
Dazu trägt die Kirche auf verschiedene Weise bei. Einmal, indem sie die Gläubigen dazu ermutigt, die demokratischen Werte zu unterstützen, indem sie diese Werte aber auch vermittelt. Etwa in der Kinder- und Jugendarbeit, da sind wir super engagiert oder im Bereich der Schulen, wo wir sehr stark engagiert sind oder auch, indem wir am öffentlichen Diskurs teilnehmen. Das ist sicher der erste Beitrag der Kirche.
Dann ist es sicher auch gut, wenn die Kirche einschreitet, wenn Maßlosigkeiten geschehen. Was mir immer auch ein Herzensanliegen ist, ist, dass wir in den sozialen Netzwerken präsent sind und bei Themen, die da manchmal auf widerliche Weise getriggert werden, auch mal zu widersprechen und zu sagen, das akzeptieren wir nicht. Das sind Dinge, die kann jedes Mitglied der Kirche machen.
DOMRADIO.DE: Eigentlich gilt ja auch für die Kirchen, dass sie sich aus ganz aktuellen politischen Geschehen heraushalten. Aber Christen können doch dafür eintreten, dass mehr Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität wachsen möge. Das sind doch christliche Tugenden, für die wir eintreten, beten und die wir auch anmahnen dürfen, oder?
Jüsten: Ja, auf jeden Fall. Je mehr wir unser christliches Ethos, die christlichen Tugenden, die christlichen Ideale mit Lebenspraxis füllen, desto mehr tragen wir dazu bei, dass unsere Gesellschaft immer auch eine Bessere wird. Das ist übrigens auch keine Frage der großen Zahl. Das reicht eigentlich aus, wenn das jeder vor Ort schon macht.
Und was ich auch immer sage, ist: Liebe Christinnen und Christen, engagiert euch in der Politik. Politik ist kein schmutziges Geschäft, wenn es gut gemacht wird, sondern im Gegenteil. Politik trägt dazu bei, dass die Lebensumstände in meinem Umfeld gestaltet werden und besser gestaltet werden, als sie vorher sind. Deshalb sage ich immer: Wenn wir Christen uns in die Politik einmischen und engagiert da mitmachen, dann ist das gut für unser Land und für die Demokratie.
Und man darf als Christ auch in politischen Fragen unterschiedlicher Meinung sein. Es gibt nur ganz wenige Fragestellungen, wo wir als katholische Kirche sagen, da gibt es eigentlich nur eine Meinung zu. Auch das mal wieder deutlich zu machen, halte ich auch für wichtig.
Das Interview führte Johannes Schröer.