Ethikerin mahnt zu Sorgfalt in Kriegsberichterstattung

"Medien sind immer schon instrumentalisiert worden"

Nahezu ungeprüft übernahmen am Dienstag zahlreiche Medien eine Hamas-Meldung über eine Krankenhaus-Explosion im Gaza. Dadurch entstand der falsche Eindruck, Israel sei dort verantwortlich für zivile Opfer. Wie konnte das passieren?

Die Macht der Bilder und Social Media sind dominierende Faktoren in der aktuellen Berichterstattung / © Fatima Shbair/AP (dpa)
Die Macht der Bilder und Social Media sind dominierende Faktoren in der aktuellen Berichterstattung / © Fatima Shbair/AP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Am Dienstagabend gab es zunächst nur Informationen über das Krankenhaus von der Hamas, die als Terrororganisation eingeordnet wird. Mittlerweile ist klar, nichts davon stimmt, sehr wahrscheinlich war es ein Blindgänger einer militanten Palästinenserorganisation und es kamen deutlich weniger als 500 Menschen ums Leben – zum Glück. Warum haben die Medien trotzdem die Meldung nahezu kritiklos übernommen?

Prof. Dr. Claudia Paganini lehrt Medienethik an der Hochschule für Philosophie in München (privat)
Prof. Dr. Claudia Paganini lehrt Medienethik an der Hochschule für Philosophie in München / ( privat )

Prof. Dr. Claudia Paganini (Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie in München): Da muss man sehr stark den Hintergrund berücksichtigen, vor dem die Berichterstattung erfolgt. Durch eine quasi zeitnahe "Berichterstattung" auf Social Media, die ja eigentlich keine Berichterstattung im klassischen Sinne ist, wie wir es jetzt auch schon im Ukraine-Krieg kennengelernt haben, werden die Qualitätsmedien extrem unter Druck gesetzt, ähnlich schnell zu sein, weil sie ansonsten Aufmerksamkeit und letztlich auch Konsumentinnen und Konsumenten verlieren.

Das ist grundsätzlich eine ganz problematische Dynamik, die dann gezwungenermaßen zu solchen Problemen führt. Das konkrete Ereignis jetzt ist ein Anlassfall, wie wir noch ganz viele andere ähnliche haben werden, das ergibt sich aus der aktuellen Mediensituation.

Claudia Paganini

"Das ist grundsätzlich eine ganz problematische Dynamik, die dann gezwungenermaßen zu solchen Problemen führt."

Das heißt, wir müssen grundsätzlich hinterfragen, was erwarten wir überhaupt von Qualitätsjournalismus und was sind wir auf der anderen Seite selber auch bereit, dafür auszugeben oder von unserer Seite zur Verfügung zu stellen? Das bedeutet, der Konsument sollte in erster Linie erst mal ein Stück weit Geduld und auch das Verständnis haben, dass guter Journalismus Zeit braucht.

DOMRADIO.DE: Wie bekommt man denn in Kriegssituationen eine Balance zwischen Schnelligkeit und sorgfältige Prüfung der Quellen hin?

Ein Überblick über die Verwüstungen, die durch den Angriff auf das Ahli Arab Krankenhaus verursacht wurden, bei dem Dutzende von Zivilisten getötet wurden. / © Mohammad Abu Elsebah (dpa)
Ein Überblick über die Verwüstungen, die durch den Angriff auf das Ahli Arab Krankenhaus verursacht wurden, bei dem Dutzende von Zivilisten getötet wurden. / © Mohammad Abu Elsebah ( dpa )

Paganini: Die Balance zu finden ist schwierig, weil das zwei Prinzipien oder Werte sind, die sich wirklich komplett widersprechen. Das heißt, man kann eigentlich nur den einen zugunsten des anderen ein stückweit aushebeln. Und in der Regel, wenn man im Qualitätsjournalismus auf die Sorgfalt der Recherche setzt, wird das mit der Schnelligkeit nicht gehen. Doch die erwarten die Konsumentinnen und Konsumenten in Form von fast einer Echtzeit-Berichterstattung – schneller als schnell.

Claudia Paganini

"Wenn man im Qualitätsjournalismus auf die Sorgfalt der Recherche setzt, wird das mit der Schnelligkeit nicht gehen."

Das wird natürlich nicht funktionieren, wenn wir zugleich den Anspruch haben, dass Quellen überprüft werden, aber diesen Anspruch sollten wir haben. Das heißt, wir müssen immer aufpassen, dass man einfach nicht Erwartungshaltungen an Qualitätsjournalismus heranträgt, die durch nichts erfüllt werden können.

Social Media ist eben kein Qualitätsjournalismus und es ist in gewisser Weise auch natürlich, dass solche Probleme sich jetzt ergeben, weil wir hier mit einem Medienumbruch konfrontiert sind. Medien waren immer schon Waffen von Kriegsparteien, Medien sind immer schon instrumentalisiert worden.

Nur: Wenn wir mit unseren alten Medien interagieren, dann haben wir auch eine gewisse Kompetenz, diese Manipulationsmöglichkeiten mehr oder weniger adäquat einzuordnen. Immer dann, wenn es aber zu medialen Umbrüchen wie jetzt kommt, dann sind die Konsumentinnen und Konsumenten verunsichert, reagieren mit Verhaltensunsicherheiten und lassen sich leichter manipulieren und da kommt es dann besonders zu missbräuchlichen Fällen.

DOMRADIO.DE: Wie genau meinen Sie das mit den Umbrüchen in den Medien im Bezug auf die Situation jetzt?

Paganini: Weil kriegerische Ereignisse seit einigen Jahren ganz stark über Social Media transportiert werden oder ganz stark auf Social Media stattfinden. Das ist etwas relativ Neues.

Die ersten Selfies im Irakkrieg, die am Kriegsschauplatz gemacht worden sind, waren damals etwas total Neues. Bis dahin gab es immer nur JournalistInnen, die im Kriegskontext waren – sogenannte "embedded journalists", und von dort berichtet haben. Und auf einmal konnten die Protagonisten selber berichten.

Das waren zunächst in der Regel nur Selfies, einzelne Bilder, aber mittlerweile haben wir quasi eine Echtzeit-Berichterstattung von involvierten Personen und da gelten natürlich keinerlei journalistische Standards mehr.

DOMRADIO.DE: Im Krieg hat jede Partei ein Interesse daran, ihre Sichtweise zu verbreiten. Aber muss da nicht auch eine ethische Unterscheidung getroffen werden, hier Israel als Demokratie, dort die terroristische Hamas, die eine Demokratie, also Israel, auslöschen will?

Paganini: Natürlich macht die Seriosität vom Absender in der Bewertung einen Unterschied. Und die Seriosität von Hamas als Quelle ist so gut wie gar nicht vorhanden. Die ist mit allerhöchster Vorsicht zu genießen. Aber jede kriegführende Partei, ob das jetzt eine Terror-Organisation oder eine demokratische Regierung ist, hat natürlich Eigeninteressen.

Israel, Nir Oz: Ein Gebäude ist bei einem Angriff der Hamas stark beschädigt worden / © Ilia Yefimovich (dpa)
Israel, Nir Oz: Ein Gebäude ist bei einem Angriff der Hamas stark beschädigt worden / © Ilia Yefimovich ( dpa )

Auch in nicht-kriegerischen Zeiten würde ja niemand von uns meinen, dass im Wahlkampf Parteien keine Eigeninteressen über ihre PR verbreiten. Es ist ja völlig klar, dass man immer Eigeninteressen in der Berichterstattung und in der Darstellung verfolgt. Deshalb kann man natürlich auf keinen Fall sagen, dass alles, was aus offiziellen Quellen vonseiten des Staates Israel kommt, einfach eins zu eins zu übernehmen ist.

DOMRADIO.DE: Sie haben eben die Konsumentinnen und Konsumenten und deren Anspruchshaltung angesprochen. Wenn sich die Medien immer schneller drehen, heißt das aber nicht auch, dass die Konsumenten in Zukunft auch bereit sein müssen, für Qualitätsjournalismus möglicherweise mehr zu bezahlen, mehr zu investieren?

Paganini: Ja, wir müssen einfach begreifen, dass guter Journalismus nicht einfach nur eine Leistung ist, die ich einfach einfordern kann, sondern dass es da auch wechselseitige Beziehungen und Verantwortlichkeiten gibt. Das heißt, ich muss als Konsumentinnen und Konsumenten auch bereit sein, etwas zu bezahlen für guten Journalismus. Und das meine ich jetzt nicht nur im monetären Sinn. Guter Journalismus kostet Geld und braucht aber auch Zeit.

Claudia Paganini

"Wir müssen auch unsere Verantwortung als Konsumentinnen und Konsumenten begreifen."

Und wir müssen uns einfach dessen bewusst sein, dass je nachdem, was wir auch von unserer Seite als Konsumenten bereit sind, zu investieren und zu geben, wir entsprechend guten oder eben weniger guten Journalismus zurückbekommen werden. Wir müssen auch unsere Verantwortung als Konsumentinnen und Konsumenten begreifen und dürfen nicht einfach nur in dieser fordernden Haltung bleiben, weil es nicht funktionieren kann.

Ich kann nicht Druck auf Journalismus ausüben und Forderungen stellen, die eben in unterschiedliche Richtungen gehen und zum Teil auch noch nicht wirklich miteinander vereinbar sind und mich dann wundern, dass es nicht funktioniert.

DOMRADIO.DE: Klassische Medien sind das eine. Aber wie kann man als Konsument verantwortlich mit den Inhalten auf Social Media umgehen?

Paganini: Wir müssen uns einfach bewusst sein, dass Social Media-Berichterstattung etwas ganz anderes ist, dass wir eben keine journalistischen Standards haben. Wir haben aber dafür andere Benefits. Wir haben in der Medienethik über lange Jahre darüber diskutiert, wie man im Journalismus stärker die Betroffenen-Perspektive abbilden kann.

Denn in der Regel, wenn ein kriegerischer Konflikt sich ereignet, sind die Betroffenen vor Ort. Dann sitzen sie gerade nicht in einem Fernsehstudio oder im Print-Medienhaus in Köln oder Berlin und schreiben in aller Ruhe ihre Beiträge, sondern sie sind vom Krieg betroffen, irgendwo vor Ort.

Claudia Paganini

"Da hat Social Media auch ganz viel Potential, weil wir da unglaublich nah dran an den Menschen sind."

Das ist ein ganz großer Bias im Journalismus, denn wie kann ich eben nicht nur meine distanzierte, privilegierte Position einbringen, sondern wirklich die Position der Betroffenen? Da hat Social Media auch ganz viel Potential, weil wir da unglaublich nah dran an den Menschen sind.

Social Media auf dem Smartphone / © Twin Design (shutterstock)
Social Media auf dem Smartphone / © Twin Design ( shutterstock )

Wir müssen unsere Medienkompetenz in der Zeit von diesem medialen Umbruch so weiterentwickeln, dass uns beim Konsumieren bewusst wird, dass es eben ein Unterschied ist, ob jemand aus der Betroffenen-Perspektive unmittelbar seine Eindrücke mit der Kamera festhält oder ob anhand von journalistischen Kriterien ein Artikel sorgfältig recherchiert und aufbereitet worden ist.

Das Interview führte Mathias Peter.

Israelisches Sicherheitskabinett erklärt offiziell Kriegszustand

Israel befindet sich jetzt offiziell im Krieg. Das Sicherheitskabinett der israelischen Regierung hat Samstagnacht den Kriegszustand und die damit verbundene Einleitung militärischer Maßnahmen gebilligt, wie das israelische Regierungspressebüro am Sonntagnachmittag mitteilte.

Es beruft sich dabei auf Artikel 40 des israelischen Grundgesetzes. Dieses legt fest, dass der Beginn eines Kriegs oder entsprechender militärischer Operationen nur aufgrund eines Regierungsbeschlusses erfolgen dürfen.

Ein Gesamtbild der Zerstörung nach dem tödlichen Angriff auf eine Polizeistation in der Stadt Sderot am zweiten Tag des andauernden Konflikts zwischen Israel und der militanten palästinensischen Gruppe Hamas / © Ilia Yefimovich (dpa)
Ein Gesamtbild der Zerstörung nach dem tödlichen Angriff auf eine Polizeistation in der Stadt Sderot am zweiten Tag des andauernden Konflikts zwischen Israel und der militanten palästinensischen Gruppe Hamas / © Ilia Yefimovich ( dpa )
Quelle:
DR