Religionssoziologe sieht Religion im Krieg mitverantwortlich

"Treiber, der Konflikte verschärfen kann"

Der Krieg im Namen Gottes ist ein altes Phänomen, das die Geschichte geprägt hat und bis heute prägt. Wie Religion auf Konflikte wirken kann und wie das bei gegenwärtigen Konflikten ist, erklärt der Religionssoziologe Detlef Pollack.

Stacheldraht, im Hintergrund unscharf der Felsendom in Jerusalem. / © Mohammed musthafa p (shutterstock)
Stacheldraht, im Hintergrund unscharf der Felsendom in Jerusalem. / © Mohammed musthafa p ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Sind Religionen eher Kriegstreiber oder eher Friedensstifter? Welche Aussage stützen Sie mehr?

Religionssoziologe Detlef Pollack (WWU – MünsterVIEW)

Prof. Dr. Detlef Pollack (Religionssoziologie an der Universität Münster): Die moderate Antwort lautet: Beides. Religionen können Konflikte anheizen, sind aber auch in der Lage, zwischen verfeindeten oder sogar Kriegsparteien zu vermitteln.

Wenn wir beispielhaft auf den Westfälischen Frieden oder den Osnabrücker Frieden schauen, sehen wir deutlich, dass, obwohl die Konfessionen an dem Friedensschluss beteiligt waren, der Frieden gegen die Religionen und Konfessionen erzielt worden ist, indem man die theologischen Streitigkeiten auf sich beruhen ließ und versuchte, eine rechtliche Lösung zu finden. Die religiösen Streitfragen wurden ausgeklammert und das Recht über die Religion gestellt. Das war eine Bedingung für diesen Frieden, der immerhin ungefähr 150 Jahre gehalten hat.

DOMRADIO.DE: Sind es heute noch theologische Streitigkeiten, die zu Kriegen führen?

Pollack: Bis ins 16. Jahrhundert, teilweise noch im 17. Jahrhundert, war das sehr wohl der Fall. Der 30-jährige Krieg ist nicht allein durch theologische und religiöse Streitigkeiten bedingt, aber zumindest am Anfang des 30-jährigen Krieges standen sich die unterschiedlichen Konfessionen stark gegenüber. Erst später spielten politische Konflikte mit hinein.

Ähnlich ist es auch heute. Man kann bestimmt nicht sagen, dass die Konflikte in Nahost oder der Überfall Russlands auf die Ukraine rein politische Konflikte sind und die Religion gewissermaßen nur benutzt wird, sondern Religion kann Motive liefern, um den Konflikt anzuheizen.

DOMRADIO.DE: Der Krieg in der Ukraine ist zunächst ein rein politischer, aber wir hören immer wieder Einlassungen des Moskauer Patriarchen mit religiösen Statements. Auch die verschiedenen christlichen Konfessionen in der Ukraine und Russland reagieren unterschiedlich auf den Konflikt. Ist der Krieg in der Ukraine eher religiös oder eher politisch?

Detlef Pollack

"Religion ist in der Lage, eine Vorstellungswelt aufzumachen, die zu Beginn politisch bedingte Konflikt religiös auflädt."

Pollack: Zunächst rein politisch, aber es ist nicht so, dass Religion unschuldig mit hineingezogen wird, sondern Kyrill I., der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, stellt Formeln bereit, um diesen Krieg zu legitimieren. Insofern trägt er zur Verschärfung der Lage bei.

Religion ist in der Lage, eine Vorstellungswelt aufzumachen, die zu Beginn politisch bedingte Konflikt religiös auflädt. Kyrill I. spricht von einem metaphysischen Kampf zwischen Gut und Böse. Natürlich stehen die Guten auf der Seite Russlands. Die Bösen auf der anderen Seite. Das ist nicht nur eine Form der Benutzung von Religion, sondern an dieser Stelle wird Religion zu einer Quelle der Gewaltverschärfung.

DOMRADIO.DE: Blicken wir in den Nahen Osten. Der Jerusalemer Abt Nikodemus Schnabel sagt in einem Interview in der ZEIT-Beilage "Christ & Welt“, das Problem im Nahen Osten sei weniger, dass sich Religion politisiert habe, sondern dass sich Politik 'religionisiere'. Stimmen Sie dem zu?

Pollack: Ich würde ihm eher widersprechen. Politik und Religion sind nicht ohne weiteres auseinanderzuhalten. Religion ist nicht das Unschuldige und Politik gewissermaßen schuldig, weil Religion nur benutzt werde.

Umfragen zeigen, dass Gewalt religiös legitimiert werden kann. Es gibt sehr viele Menschen, die sagen, dass religiöse Lehren über den rechtlichen Bestimmungen eines demokratischen Staates stehen. Oder sie sagen, dass nur ihre Religion die wahre ist.

Solche Haltungen sind relativ verbreitet. Nicht bei einer Mehrheit, aber bei einer beachtlichen Minderheit. Insofern sage ich, Religion ist eine eigenständige Quelle der Gewaltverschärfung.

DOMRADIO.DE: Sie sprachen unter anderem von Demokratie. Das ist nicht überall auf der Welt der Fall. Wie unterscheiden sich Religionsgemeinschaften in ihrem Verhältnis zur Politik?

Pollack: Ich mache vor allen Dingen einen Unterschied stark: Inwieweit Religionsgemeinschaften bereit sind, sich selbst zu kritisieren. Ich habe tatsächlich Bezug zur Demokratie hergestellt. Das Christentum – wegen mir das in Deutschland – ist sehr wohl dazu bereit, Schuld zu bekennen, sich zu kritisieren und zur Umkehr aufzurufen.

Das ist eine wichtige Bedingung für Religionen, um sich in der eigenen konfliktverschärfenden Kraft zu begrenzen. Nicht alle Religionsgemeinschaften sind im gleichen Maße dazu bereit, sich selbst infrage zu stellen und den eigenen Wahrheitsanspruch zu relativieren. Das ist ein wichtiger Treiber, der Konflikte verschärfen kann.

DOMRADIO.DE: Wie können Religionen heute friedensstiftend wirken?

Detlef Pollack

"Als Religionsgemeinschaft muss man sich fragen, inwieweit man selbst eine konfliktverschärfende Tendenz in sich trägt und inwieweit die eigene Religion als Ressource für die Verschärfung von Konflikten wirken kann."

Pollack: Wir haben schon festgestellt, dass Religionen ambivalent auf Konflikte wirken können. Verschärfend, aber auch zum Frieden aufrufend. Welche Wirkung überwiegt, ist eine Entscheidung der Religion. In meinen Augen kommt es darauf an, dass die Religion in ihrer eigenen Tradition zurückgeht und Ressourcen mobilisiert, die friedensstiftend wirken.

Solche Quellen, die für den Frieden starkmachen, gibt es in allen großen Religionsgemeinschaften. Im Christentum, im Islam, im Judentum. Um die Ressourcen einer Religionsgemeinschaft, die zum Frieden und zur Verständigung beitragen können, einzusetzen, kommt es in meinen Augen darauf an, selbst religiös zu argumentieren. Das wird nur gelingen, wenn nicht mit Schuldzuweisungen an die andere Seite gearbeitet wird oder versucht wird, die Religion reinzuwaschen, indem man die Konflikte als rein politischer Natur wertet.

Als Religionsgemeinschaft muss man sich fragen, inwieweit man selbst eine konfliktverschärfende Tendenz in sich trägt und inwieweit die eigene Religion als Ressource für die Verschärfung von Konflikten wirken kann.

DOMRADIO.DE: Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Friedensethik von Papst Franziskus, der versucht, sich neutral zu verhalten, dafür aber von allen Seiten die Kritik bekommt, dass er sich nicht deutlich genug positionieren würde?

Pollack: Der Aufruf zum Frieden darf die Frage nach der Verantwortung für einen Konflikt nicht ausklammern. In meinen Augen ist es wohlfeil, zu Frieden, Verständigung und Waffenstillstand aufzurufen, ohne die Frage zuzulassen, wer die Verantwortung für Kriegshandlungen oder für die Verschärfung von Konflikten trägt.

Insofern kann sich eine religiöse Gemeinschaft oder einer ihrer Vertreter nicht aus der Bewertung eines Konflikts herausstehlen. Dabei ist es aus einer rein religiösen Perspektive wichtig, anzuerkennen, dass es wahrscheinlich nicht möglich ist, politische Handlungsempfehlungen abzugeben.

Gleichwohl ist das Oberhaupt der katholischen Kirche nicht davon freigestellt, die Frage aufzuwerfen, wer für die Konflikte in der Welt verantwortlich ist.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

Religion ist oft nicht Grund für Antisemitismus

Antisemitismus unter Musliminnen und Muslimen in Deutschland ist einer Untersuchung zufolge häufig eher eine Folge konservativ-autoritärer Einstellungen als der Religion an sich. Auch gebe es Hinweise, dass regionale beziehungsweise nationale Diskurse einen stärkeren Einfluss auf negative Einstellungen gegenüber Jüdinnen und Juden hätten als religiöse Zugehörigkeit. So zeigten zum Beispiel auch Menschen christlichen Glaubens entsprechende Ressentiments.

Antisemitismus: Juden in Deutschland sehen wachsende Bedrohung / © Arne Dedert (dpa)
Antisemitismus: Juden in Deutschland sehen wachsende Bedrohung / © Arne Dedert ( dpa )
Quelle:
DR