Es klingt im ersten Moment nach einem schlechten Witz. In einem Gottesdienst in den USA wird über Jesus gepredigt. Die Bergpredigt aus dem Matthäus-Evangelium wird zitiert. "Wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, so wende ihm auch die andere zu!" Auf einmal steht jemand auf: "Was ist das denn für ein Unsinn? Jesus ist viel zu schwach! Das ist doch nur linksliberales Gewäsch!"
So oder so ähnlich soll es sich immer öfter in evangelikalen Kreisen in den USA abspielen, erklärte vor kurzem Russell Moore, ehemaliger Spitzenbeamter der "Southern Baptist Convention" dem US-Nachrichtensender NPR. Das Interview löste eine Debatte aus, weit über die USA hinaus. Von einigen Evangelikalen soll sogar der Wunsch gekommen sein, besonders "linke" oder "schwache" Passagen aus der Bibel zu streichen. Ist Jesus den Evangelikalen in den USA zu links geworden? Und kann man den biblischen Jesus überhaupt in moderne, politische Kategorien einordnen?
"Jesus war revolutionärer als jeder Sozialist"
Der Bochumer Neutestamentler Thomas Söding schüttelt da den Kopf. "Jesus war revolutionärer als jeder Sozialist, weil er nicht einen idealen Staat, sondern das Reich Gottes verkündet hat, das Schuld, Leid und Tod, Ungerechtigkeit und Tragik überwindet." Jesus passe in kein Schema, sagt der 67-Jährige. Das Neue Testament werde nicht müde, immer neue Bilder, Titel und Namen zu finden, die das Geheimnis der Person Jesu ausdrücken. "Jesus ist der Mensch, 'der nicht gekommen ist, bedient zu werden, sondern zu dienen und sein Leben zu geben als Lösepreis für Viele' (Markusevangelium 10,45)."
Doch man muss sich auch so fragen: Geht es überhaupt, die Bibel zu zensieren? Befinden wir uns dann noch auf dem Boden einer christlichen Religion? So überraschend es auch klingt, aber diese Entwicklung ist nicht neu, wenn auch nicht direkt mit dem dicken schwarzen Stift in der Heiligen Schrift herumgestrichen wird. Das erklärt der Jesuitenpater und Philosophieprofessor Godehard Brüntrup SJ aus München: "De facto streichen wir alle gewisse für uns moderne Menschen fragwürdige Sätze und Geschichten aus der Bibel, indem wir sie historisch relativieren, nicht wörtlich nehmen oder für nicht aussagekräftig halten. Das gilt insbesondere für das Alte Testament."
Bibelstellen werden gerne mal ausgelassen
Tatsächlich ist es oftmals der erste Teil der christlichen Bibel, dessen Texte den Gläubigen nicht selten in Gottesdiensten vorenthalten werden, sollten sie zu anstößig, verstörend oder blutrünstig sein. Sogar die offizielle Liturgie der Kirche kennt solche Eingriffe wie zum Beispiel im Stundengebet den Wegfall eines Verses im 110. Psalm, in dem Gott Gericht hält, die Toten häuft und die Häupter "weithin auf Erden" zerschmettert.
Auch der berüchtigte Fluchpsalm 58, in dem sich die Frevler "wie die Schnecke" in Schleim auflösen und wie eine Fehlgeburt "die Sonne nicht schauen" sollen, ist seit der Liturgiereform nicht mehr Bestandteil des Breviergebets.
Bei der Botschaft Jesu verläuft es ähnlich, wenn sich Christen je nach Gesinnung und (kirchen-)politischer Ausrichtung diese entsprechend zurechtfeilen und Texte vernachlässigen, die den eigenen Vorstellungen, wie es denn sein müsste, nicht entsprechen.
Vor diesem Hintergrund fragt Papst Benedikt XVI. in seinen Jesus-Büchern: "War Jesus in Wirklichkeit ein liberaler Rabbi – ein Vorläufer des christlichen Liberalismus?" – Gerade der einseitige Fokus auf Jesu Streitgespräche mit den Pharisäern wie um den Sabbat könne zur Sichtweise einer "Kritik des freiheitlichen und vernünftig gesonnenen Menschen an einem verknöcherten Legalismus" führen.
Die bibeltreuen Evangelikalen
Laut Russell Moore kommt der Wunsch, Jesus-Zitate zu streichen, aus konservativ evangelikalen Kreisen. Man könnte die machtvolle religiöse Bewegung in den USA, die ungefähr ein Viertel der Wählerschaft ausmacht, mit einigen Freikirchen in Deutschland vergleichen. Politisch konservativ, stramm im Glauben und in der Regel bibeltreu: Wort für Wort. Umso überraschender, dass nun einige von Ihnen unbequeme Passagen in der Bibel "zensieren" möchten.
Anstoß an den Bibeltexten haben die Menschen allerdings schon immer genommen. Gibt es denn überhaupt die Möglichkeit den "wahren" Jesus aus den vielen Texten der Bibel herauszufiltern? Die Bibel biete kein Einheitsevangelium, sagt Thomas Söding, kein "best of", sondern die vier Jesus-Geschichten, die von Anfang an überall dort akzeptiert worden seien, wo der Glaube an Jesus lebendig gewesen ist.
"In jeder Generation hat es Versuche gegeben, ein 'reines' Evangelium zu konstruieren, ohne anstößige Stellen. Jede nächste Generation hat bereits den Kopf über die Ängstlichkeit geschüttelt, die in diesen Purifizierungsversuchen zum Ausdruck kam", so der Bochumer Neutestamentler.
Der Jesuit Brüntrup weist darauf hin, dass es um so folgenreicher werde, je näher man an Jesus und den Kern seiner Verkündigung herankomme. "Man kann nicht die Bergpredigt ablehnen und immer noch Christ oder Christin sein.“
Trump als Katalysator für rechte Christen
Wenn es also nicht die Suche nach dem einen, reinen Glauben ist, was erklärt dann die Zensur-Bemühungen der Evangelikalen? Die meisten vereint ihre konservative politische Ausrichtung, die gerade in der Präsidentschaft von Donald Trump neue Bedeutung gewonnen hat. Er stelle "eine einzigartige Bedrohung sowohl für die amerikanischen Institutionen als auch für das Zeugnis der Kirche" dar, sagte der bereits erwähnte Russell Moore der Nachrichtenplattform Semafor.
Um die 80 Prozent der weißen Evangelikalen haben bei der Präsidentschaftswahl 2016 für Trump gestimmt, bei der Wahl vier Jahre später hat sich an diesen Zahlen nicht viel verändert. Die Verbindung zwischen Trump und den Evangelikalen ist in dieser Zeit immer enger geworden. Das geht sogar so weit, dass für einige die zentrale Identifikationsfigur ihres Weltbildes nicht mehr Jesus, sondern Trump geworden ist.
Trump, der neue Jesus?
Wird also Trump für manche Evangelikale zum neuen Jesus? Soweit will der Jesuit und USA-Experte Brüntrup nicht gehen. "Vielmehr ist es so, dass sich hier politische Vorstellungen mit der Religion zu einem Weltbild vermischen. Das gab es schon oft in der Geschichte."
Dabei sei es nicht grundsätzlich falsch oder zu verurteilen, aus der Religion auch politische Überzeugungen abzuleiten. "Wenn man aber zuerst eine politische Überzeugung hat und dann die Religion in den Dienst nimmt, um diese politische Meinung spirituell aufzuladen und zu überhöhen, dann dient die Religion nur noch Machtinteressen."
Kein neues Phänomen
Diese Entwicklung hat unter Trump mehr Bedeutung gewonnen, ist aber keinesfalls neu, erzählt auch Yale-Professor Miroslav Volf im DOMRADIO.DE-Interview. Bereits unter George W. Bush (2000-2008) habe man eine Erstarkung der christlichen Rechten bemerkt. "Das ist eine problematische Herangehensweise an die Politik geworden. Dadurch haben die Kirchen auch definitiv an Ansehen und sozialem Kapital verloren."
Dass im nächsten Schritt der Jesus der Bibel durch Evangelikale in Frage gestellt wird, ist für den anglikanischen Theologen nicht überraschend. An der eigentlichen Botschaft Jesu gebe es in rechts-christlichen Kreisen immer weniger Interesse. Die Kirche diene mehr als kulturelle Identifikationsgruppe, so Volf, und weniger als Glaubensgemeinschaft. "Die meisten Dinge, die für Jesus wichtig waren, spielen heute für den normalen Kirchgänger keine große Rolle mehr. Und die meisten Dinge, die den normalen Menschen auf der Straße bewegen, hätten Jesus überhaupt nicht interessiert." Ein gutes Beispiel sind für Volf die Sozialen Medien. Wir befassen uns tagtäglich mit unserem eigenen Bild, während wie keine Ahnung haben, wie dieser Jesus überhaupt ausgesehen hat.
Evangelikale ohne Evangelium
Evangelikale haben also kein Interesse am Evangelium? So skurril das klingt, sagt Volf: Ja. "Es besteht nicht unbedingt ein Interesse an der Geschichte von Jesus Christus, was mich als Theologen erst mal schockiert." Der Professor an der Yale Divinity School befasst sich schon seit Jahren mit diesem Effekt, ist aber immer noch ein wenig überrascht, dass für einige Christen Christus keine große Rolle mehr spielt: "Wenn es um das Evangelium und das Leben Christi geht, gibt es da oftmals ein Fremdeln mit dieser Figur."
Wie konnte es so weit kommen? Warum hängen bei den Evangelikalen Religion und Politik so eng zusammen? Die Autorin Annika Brockschmidt macht in ihrem Buch "Amerikas Gotteskrieger" eine ganz klare Überschneidung der Interessen verschiedener Gruppen aus: "Die moderne religiöse Rechte hat es durch geschickte politische Themensetzung in den Kulturkämpfen geschafft, frühere Konflikte zwischen Konfessionen zu überwinden und ihre Basis zu einem effektiven Wählerblock zu formieren."
Wenn eine christliche Gemeinschaft für ihre Überzeugungen gegen Abtreibung oder gleichgeschlechtliche Ehe eintritt, dann interessiert das viele rechtskonservative Wähler nicht wegen der theologischen Begründung dahinter, sondern weil es ihre Werte vertritt und gut ins Weltbild passt. Ob dem nun Botschaften aus der Bibel oder sogar Jesusworte zu Grunde liegen, spielt dann gar keine Rolle mehr. Da ist der Weg dann auch nicht mehr so weit, bis zum Wunsch, unbequeme Bibelstellen zu streichen, von dem der Ex-Baptistenfunktionär Russell Moore berichtet.
Der unbequeme Heiland
Vom Streichen unbequemer Bibelstellen hält auch Thomas Söding erwartungsgemäß nicht viel: "Es wäre doch schrecklich, wenn Jesus nur bestätigen würde, was ich eh schon zu wissen glaube." – Sein Rat: die sperrigen Stellen nicht verdrängen, nach der Wahrheit in der Kritik fragen – und immer mit der Umkehr bei sich selbst anfangen, insbesondere wenn der Eindruck entsteht, nur die anderen seien böse und würden Gottes Zorn auf sich ziehen. "Die größte Provokation heißt: Gott ist Liebe."
Für den Jesuiten Brüntrup ist es übrigens eine ganz logische Schlussfolgerung, wenn man sich die Religion passend zur Politik zurechtbastelt – und nicht politische Überzeugungen aus der Religion ableitet. "Es ist kein Wunder, dass ein politisch zweckdienliches Verständnis von Religion mit Jesus nicht viel anfangen kann, weil er nämlich klipp und klar sagte, dass sein Reich nicht von dieser Welt ist."