epd: Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die von Ihnen geleitete westfälische Landeskirche beraten auf ihren anstehenden Synoden über Weichenstellungen für die Zukunft der Kirche. Wie wird diese Zukunft aussehen?
Annette Kurschus (Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen): Die Kirche wird kleiner werden und mit weniger Geld ausgestattet sein. Zugleich wird sie, da bin ich ganz zuversichtlich, konzentrierter und noch klarer in die Gesellschaft ausstrahlen mit der Botschaft, für die sie steht. In der bisherigen Corona-Zeit haben wir bereits erfolgreich den Fokus auf unsere Stärken gelegt, etwa mit unserer Fürsorge für die Schwachen in unserer Gesellschaft. Wir müssen jetzt fragen, wie wir unsere Stärken ausbauen können, auch wenn sich Formen verändern, manches aufgegeben wird und an anderen Stellen Neues entsteht. Die Kräfte gilt es zu konzentrieren, wo unsere Kraft besonders gebraucht wird.
epd: Was bedeutet der Rückgang von Einnahmen für die künftige Rolle der Kirche in der Gesellschaft?
Kurschus: Dass wir weniger werden, geht nicht zwangsläufig mit einem Bedeutungsverlust einher. Wir verbinden Einsparungen bewusst mit Aufgabenklärung und fragen: Welche Aufgaben wollen wir weiter oder sogar noch stärker als bisher wahrnehmen, welche wollen wir bündeln und welche können auch von anderen Akteuren übernommen werden? Manche Arbeit war wichtig und hatte ihre Zeit und jetzt ist vielleicht die Zeit für anderes.
epd: Eine häufige Antwort auf Sparzwänge sind Fusionen. Können Sie sich vorstellen, dass es künftig weniger als 20 Landeskirchen gibt?
Kurschus: Diese Frage muss gestellt werden, auch wenn es dazu derzeit noch keine konkreten Überlegungen gibt. Wichtig ist mir aber zunächst der Schritt, dass wir uns trotz der Vielfalt unserer Landeskirchen verstärkt um so viel Gemeinsamkeiten und Einheitlichkeit wie möglich bemühen.
epd: Sie gehören seit 2015 dem Rat der EKD an und kandidieren bei der Synode in Bremen erneut für dieses Leitungsgremium. Was ist wichtig für die nächste sechsjährige EKD-Ratsperiode?
Kurschus: Es gilt zunächst, angestoßene Prozesse umzusetzen und mit Leben zu füllen. Dazu gehört die Schaffung verlässlicher Finanzstrukturen. Wir wollen die junge Generation auch in Leitungsgremien stärker einbeziehen, sowohl in den Synoden als auch im Rat. Ein weiteres Thema wird die Digitalisierung sein, die das Miteinander der Menschen und auch die Kommunikation des Evangeliums verändert. Die Corona-Pandemie war eine Zäsur, die Selbstverständliches unterbrochen und uns an manchen Stellen gelähmt, aber auch Kräfte für neue Entwicklungen freigesetzt hat.
Trotz mancher Enttäuschungen haben die Menschen noch immer hohe Erwartungen an die Kirche. Wir müssen fragen: Was genau erwartet die Gesellschaft? Wir können wir nicht nur Kirche für die Menschen sein, sondern auch eine Kirche, von der sich die Menschen vertreten und gesehen fühlen? Dazu lohnt es sich, das Theologische und Geistliche hervorzuholen, die Quellen, aus denen wir ursprünglich leben.
epd: Für Ihre Redekunst in Predigten und Andachten haben Sie 2019 die Ehrendoktorwürde der Universität Münster erhalten und bekommen in diesem Jahr auch den Ökumenischen Predigtpreis. Stehen die Auszeichnungen für das, was Ihnen in Ihren Funktionen als leitende Geistliche in erster Linie wichtig ist?
Kurschus: Sie weisen auf Vieles von dem hin, was mir am Herzen liegt. Wir sind eine Kirche des Wortes, das ist eine Stärke des Protestantismus. Wenn ich mich als leitende Theologin öffentlich einmische und zu Schnittstellen zwischen Kirche und Gesellschaft äußere, tue ich das aus meinem christlichen Glauben heraus. Auch im Blick auf die großen gesellschaftlichen Fragen der Zeit mache ich die Erfahrung, dass wir besonders gehört werden, wenn die christliche Basis unseres Redens erkennbar ist und sie sich dadurch unterscheidet von dem, was alle anderen sagen. Hier geht es nicht nur um Predigten, sondern um eine Haltung, mit der wir als Christen unterwegs sind und uns prägen sollte, egal ob wir Spardebatten führen oder uns zu wichtigen Themen wie dem Klimawandel verhalten.
epd: In Bremen entscheidet sich auch, wer in der Nachfolge von Heinrich Bedford-Strohm die Leitung des EKD-Rates übernimmt. Sie waren bisher seine Stellvertreterin - stehen Sie auch als Ratsvorsitzende zur Verfügung?
Kurschus: Für dieses Amt kann man aus gutem Grund nicht kandidieren, aber für den Rat. Ich möchte dort sehr gerne weiter mitarbeiten und hoffe, dass die Synode dies unterstützt. Der Rat wird nach seiner Wahl einen Vorschlag für den Vorsitz machen, der stark von den Stimmenverhältnissen in der Synode bei der Ratswahl abhängt. Für dieses Spitzenamt braucht es ja einen starken Rückhalt der Synode.
epd: Wird also für den Vorsitz vorgeschlagen, wer bei der Ratswahl vorne liegt - und würden Sie die Wahl annehmen, falls Sie diese Person wären?
Kurschus: Dazu gibt es keine Vorentscheidung, sondern es hängt wie gesagt alles von der Zusammensetzung des neuen Rates ab.
epd: Ein wichtiges Thema der EKD-Synode wird auch die Aufarbeitung der Fälle sexualisierter Gewalt in der Kirche sein. Wie zufrieden sind Sie mit dem bisherigen Stand?
Kurschus: Bei diesem Thema kann man nie zufrieden sein. Dennoch sind wir auf einem konsequenten Weg, auch wenn wir uns mehr Tempo gewünscht hätten. Im Herbst 2020 hat endlich eine große Aufarbeitungsstudie eines Forschungsverbundes begonnen. Auch die Beteiligung der Betroffenen nehmen wir sehr ernst - es geht nicht ohne sie. In der westfälischen Kirche regelt ein für alle Ebenen verbindliches Kirchengesetz den Umgang mit sexualisierter Gewalt.
epd: Die Arbeit des Betroffenen-Beirats ist ausgesetzt, wie kann denn die Beteiligung der Betroffenen an der Aufarbeitung künftig gestaltet werden?
Kurschus: Das ist ja nur auf Zeit ausgesetzt, weil es Irritationen innerhalb des Beirats gab. Die ursprünglichen Mitglieder sollen sich trotzdem mit ihrer Perspektive und ihrer Expertise einbringen, sie werden bei der Aufarbeitungsstudie einzeln befragt.
epd: Wird die angestrebte Übereinkunft mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung erreicht, bevor Johannes-Wilhelm Rörig Anfang 2022 aus dem Amt scheidet?
Kurschus: Das hoffe ich, zumal wir in guten und intensiven Gesprächen sind. Die Öffentlichkeit blickt zurecht sehr genau auf dieses Thema. Wir wollen auf keinen Fall irgendetwas verbergen oder vertuschen und tun daher alles für öffentliche Klarheit.
epd: Der neue Bundestag hat sich konstituiert und die Koalitionsverhandlungen für eine neue Bundesregierung laufen. Welche Themen sollten aus Ihrer Sicht Priorität haben und wo würden Sie sich Reformen wünschen?
Kurschus: Ganz oben auf der Agenda sollte die Klimafrage stehen. Weltweit nehmen Dürre, Flut und Hungerkatastrophen zu, auch das Artensterben gehört zu den Folgen der Klimaveränderungen. Es geht hier auch um die Frage, ob wir nachfolgenden Generation eine ausgebeutete Welt hinterlassen wollen, in der man ständig mit Naturkatastrophen rechnen muss. Der Umgang mit diesem Thema hat auch Folgen für die Finanz- und Sozialpolitik.
Viele Krisen gehen zu Lasten der jungen Generation, aber auch Altersarmut ist wieder ein Problem. Mutige politische Entscheidungen braucht es auch für Innovationen zum Beispiel für künftige Mobilität und für die Pflege.
epd: Kann Kirche beim Thema Klimaschutz vorangehen?
Kurschus: Ich bin überzeugt, dass wir uns bei diesem Thema nur dann glaubwürdig einbringen können, wenn wir bei uns selbst anfangen. In der westfälischen Kirche gibt es bereits eine Reihe von Projekten und wir haben uns vorgenommen, bis 2040 klimaneutral zu werden. Dazu muss sich Vieles ändern, etwa beim Verkehr, beim Heizen oder bei der Frage, welche Produkte wir kaufen.
epd: Bundeskanzlerin Merkel hat bei ihrem letzten EU-Gipfel am 22.10. gesagt, das Thema Migration sei "noch nicht unter uns gelöst", und die EU sei "von außen immer wieder verwundbar". Was ist Ihrer Ansicht nach nötig?
Kurschus: Wir sehen an Belarus und Polen, wie verwundbar wir immer noch sind, weil wir es in Europa immer noch nicht geschafft haben, legale Einwanderungswege zu schaffen. Wir haben noch keine belastbare und lebbare Flüchtlingspolitik. Das macht uns sehr angreifbar. Was da weiterhin an den Außengrenzen Europas passiert, hat mit unserer eigenen Unentschiedenheit zu tun: Wir lassen zu, dass Menschen unter inhumanen Bedingungen und tiefen Menschenrechtsverletzungen auf Fluchtwegen unterwegs sind. Hier müsste sich Europa dringend einigen, wie sich das unterbinden lässt. Solange wir keine legalen Wege schaffen, wird die Flüchtlingspolitik ein Desaster bleiben.
epd: Der Europäische Rat hat beschlossen, die "wirksame Kontrolle über ihre Außengrenzen sicherzustellen". Im Gespräch sind Zäune und der Einsatz von Drohnen. Ist das der richtige Weg?
Kurschus: Uns noch mehr abzuschotten, kann nicht die Lösung sein. Das zeigt, dass es uns nur um uns selbst geht und nicht um die Menschen, die da unterwegs sind. Unser Augenmerk muss aber auf ihnen liegen. Unser Sorge muss sein, dass sie menschenwürdig behandelt werden. Einfach nur Stacheldrahtzäune und Mauern hochziehen, löst nicht die dahinter liegenden Probleme. So werden wir nicht weiterkommen in der Migrationspolitik.
epd: Lässt sich eine solche Abschottung verhindern?
Kurschus: Bei der Außengrenze zwischen Belarus und Polen haben wir wenig Einflussmöglichkeiten. Bei der Grenze zwischen Polen und Deutschland könnten wir aber sehr wohl humane Zeichen setzen. Da sollten wir dafür sorgen, dass die Menschen registriert werden und es geregelte Verfahren gibt. So könnten wir zeigen, dass es auch anders geht.
epd: Wo sehen Sie in den kommenden Jahren die Aufgabe der Kirche in der Flüchtlingspolitik?
Kurschus: Für uns muss das Credo bleiben: Der Fremdling in deiner Mitte muss ebenso wie die Schwächsten und die Armen geachtet und geschützt werden. Wichtig ist, Migranten zuallererst als Menschen anzusehen und nicht als Geflüchtete: Im Fremden begegnet mir ein Mensch, der erst einmal ein Dach über dem Kopf und eine Heimat braucht.
Es reicht nicht, mit dem mahnenden Zeigefinger auf die Politik zu zeigen, sondern wir Kirchen gehen mit in das Spiel. In den Jahren der steigenden Flüchtlingszahlen um 2015 waren wir als Kirche und Gemeinden stark. Viele Gemeinden haben die Türen ihrer Gemeindehäuser und Kirchen, teils auch ihrer privaten Wohnungen, weit aufgemacht. So können wir mitten in unserer Gesellschaft wirken und Zeichen setzen.
Das Interview führten Holger Spierig und Ingo Lehnick.